Stanser Wortmusik von MC Graeff

Tägliches von unserem Festivalschreiber

Stanser Wortmusik von MC Graeff, Freitag, 21. April

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Ritardandos und Accelerandinnen,

da sind wir doch schon wieder, auf ein erstes, zweites, fünftes Glas am Anfang eines sehr, sehr langen Abends; die Tage rinnen uns nur so durch die Finger und die Vorbereitungen für die Stanser Musiktage 2024 bis 2027 haben bereits begonnen. Noch immer ist übrigens nicht abschliessend geklärt, wie fortan zu zählen sein wird; die Chronistenwelt steht Kopf: Haben die 25. Tage nun stattgefunden oder nicht? In den Archiven ist ein Beleg dafür zu finden, auch SRF1 berichtete einst darüber – doch wo waren Sie? Können Sie sich an irgendetwas erinnern? Philosophisch betrachtet ist die Sache klar: Der Tag ist ein Tag, was immer auch geschieht, und die Musik ist die Musik, auch wenn sie nur in der Vorstellung spielt. Den Rest klären die Gelehrten. Die interaktive Digitalausgabe 2021 wurde hingegen vollgültig gezählt, obwohl doch alle nur Netflix guckten. Fest steht, dass Sie heuer das 27ste Festival in 29 Jahren erleben oder nun fast auch schon wieder erlebt haben, was bedeutet, dass man zur Herstellung der Konkordanz bis zum nächsten Jahr noch zwei Interimsfestwochen zwischenschieben muss, auf dass die 30 auch die 30 ist. Wir sind gespannt. Herzlich Willkommen, das Dorf ist voll und die Crew mit den Nerven am Ende; dem freigebigen Wochenende steht nichts mehr entgegen.

            Vielleicht an dieser Stelle noch der kurze Hinweis an alle Unverlangthörenden (Es ist ein Buchhändler im Raum, der Ihnen den Begriff der "Unverlangtsendung" gerne erklären wird.): Halten Sie ein und aus; dies ist tatsächlich ein offizieller Teil des Programms, doch schon um 19 Uhr gehört die Lautstärke wieder ganz Ihnen. Besten Dank für Ihre Geduld.

            Die Zeit ist, wie wir wissen, eine menschliche Erfindung und das Fliegen des Menschen schönster Traum, weshalb wir sagen dürfen: Die Zeit fliegt nur so dahin. Als die Musiktage aus der Taufe gehoben wurden, lag die Mehrheit der Stanser Bevölkerung im Sektor 30 bis 44 Jahre. Ende 2021, also zwischen den 25. und 26. Musiktagen, lagen hingegen schon die 60- bis 79-Jährigen vorn. Was ist da denn los und vor allem: wo soll das hinführen? So fragt man sich und fühlt sich völlig unbeteiligt an dieser Sauerei. Wie soll demnächst denn diese drangvolle Enge am Dorfplatz entstehen, wenn wir alle mit unseren Rollatoren im Wege stehen und nicht über die Kabelkanäle kommen? Und wo soll das Sanitätszelt für die Bandscheibenvorfälle hin? Fragen über Fragen in einer zeit, in der das aktuelle Interview mit Vera Kaa auf der Seite von "pro senectute" verlinkt wird, doch zum Glück kommen ja immer mehr fast noch jugendliche Leute aus anderen Landesteilen angereist, und wenn man die jungen MusikerInnen in der Helferbeiz im Spritzenhaus unter dem Wandbild von Barbara Gut sitzen sieht, dann passt das alles wunderbar zusammen – auf eine für Stans sehr typische Art übrigens, die ich als fast regelmässiger Gast seit nunmehr auch schon über einem Vierteljahrhundert, seit den berüchtigten Festivals des ersten bis vierten Tieres, ganz klar als besonders ausmachen kann.

            Also, wo stehen wir heute (solange wir noch stehen können)? Das Programm ist jung, die Menschen sind da und die Kehlen mit was auch immer gefüllt. Und doch ist die Welt eine andere geworden. Die Unbefangenheit, die im Musiktage-Geburtsjahr 1994 immer noch zu spüren war, obschon mit den Balkankriegen und der Operation Wüstensturm doch schon ein nachhaltiges Beben durch unsere vermeintlich goldenen Zeiten ging, ist mittlerweile nur noch nostalgisch zu spüren. Der Bericht "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome verkündete bereits 22 Jahre lang seine Nachricht, dass es fast schon zu spät sei, doch noch lebten wir alle das grosse "fast" als Fest. Heute kann niemand mehr wegschauen. Man kann die Augen verschliessen, doch wenn sie offen sind, was beim Bierholen durchaus angebracht ist, sind wir von Unsicherheiten umgeben, die längst nicht nur die anderen betreffen, die Fernen, die in jenen Ländern, aus denen wir so gerne die Weltmusik importieren. Die Krisen sind hier, die Krisen sind wir und unsere gesamte Kultur ist Teil davon. Alles, was wir für nötig, schön und unabdingbar halten, zieht seine Spuren – vom Dorfplatz aus über alle Schlachtfelder mäandernd bis zu den grossen Plastikteppichen auf dem Pazifik. Warum sind unsere Wasserfläschli eigentlich dort und nicht in der Arktis, wo sie hingehörten, um den Eisbären dort die bröckelnden Berge zu ersetzen? Wer hat denn da wieder seinen Job nicht gemacht? – Egal. Wir könnten also vieles unterlassen, um all dem entgegenzuwirken, wobei es ja nur Tropfen wären auf dem heissen Stein, zu dem unsere Erde gerade wird. Wir alle nur solche Tropfen, das ist ein schreckliches Bild. Doch lediglich etwas zu unterlassen hat zur Findung von Lösungen für ein neues oder zumindest weiteres Leben noch selten etwas beigetragen. Es kommt wie immer darauf an, WIE man etwas macht.

            Als ich im Vorfeld der Tage Laeticia und Candid kurz nach ihren Absichten zur Berücksichtigung des nötigen Wandels fragte bzw. danach, ob es solche gäbe, war die Antwort ein klares "eigentlich nicht", da die Musiktage ja noch nie waren, wie sie eigentlich zu sein hätten, sondern immer so sind, wie sie nun mal sind: im Wandel, im Fluss der Gegenwart und mit allen Überlegungen ausgestattet, die Dinge nicht bedenkenlos geschehen zu lassen. Genau aus diesem Gedanken heraus sind sie ja entstanden: Nicht nur als Kilbibühne für erste Auftritte jener Gefährten, die man sowieso unter jeder Autobahnbrücke klampfen hört, sondern um Unerwartetes zu präsentieren und selber unerwartet zu bleiben, auf dass das Leben im Dorf und umzu sich ändere.

            Ungefähr zur Gründungszeit der Musiktage begann eine Entwicklung, die heute fast alle medialen und privaten Kanäle zu besetzen scheint: Rasend schnell begann sich die Seuche der Eventitis zu verbreiten und im Musikbetrieb setzte sich die Virusvariante der Festivalitis fest. Die Boomer und Boomerinnen begannen vor dem Spiegel ihre Wampen anschwellen zu sehen und sahen sich für die zweite Hälfte des Lebens nur noch in ihren Schallplattensammlungen blättern. Dann entwickelten sich mehrere Phänomene parallel: Überall schossen Revivalbands aus dem Boden und manchmal spielte der eine oder andere übriggebliebene Ersatzgitarrist der Slades, Sweets, Bay City Rollers sogar noch mit. Auf den grünen Wiesen wuchsen die Grossereignisse heran, mit Zufahrtsstrassen, Zeltstädten und technischen Infrastrukturen, die kein Land der Welt jemals für ein Flüchtlingslager bereitzustellen gewillt wäre. In nur wenigen Jahren entstand eine Begeisterungsindustrie, die in allen Gewerken agierte, als gäbe es kein Morgen (was heute ja bestätigt ist). Und das alles zu einem überwiegenden Teil nur, um noch einmal zu erleben, was man schon so gut kennt. Da branden die Ekstasen auf in den Ozeanen aus verlorenen Leibern, da wogt das Leistungskreischen bei jedem halbwegs bekannten Riff, da kollabieren Legionen in besonders intensiven Sekunden, die man sich schon seit Wochen, gar Monaten im Voraus genauso vorgestellt hat. Und nur kurze Zeit später die Konsequenz: Castingshows zum eigenen Reproduzieren des Reproduzierten, ein Schneller, höher, lauter im Traum vom Star im Jedermann, mit dem maximaloptimierten Ziel, das zu liefern, was einen keinesfalls in die Gefahr bringen wird, in fragende Gesichter hineinzusingen und schon gar nicht irgendwelche Ambitionen hat, etwas an der Lage zu verändern. Denn im Moment, in dem erklingt, was uns schon vor der Kenntnis der eigenen Gefährlichkeit gefiel, sind alle Fragen nach Krise und not ausser Kraft gesetzt. Man feiert sich selbst, einmal noch und für immer, und wenn ich bejubele, dass ich jubeln möchte, sind letztlich sogar dieMusikerinnen egal. Sollen sie doch sehen, wo sie bleiben; verdienen ja auch genug. Und seither geht es nur noch hinauf: Kreischfleisch sogar bei Rihanas Oskar-Auftritt, übertöne dich selbst, sei forever young und vor allem dein eigener Star.

            Soweit also das Verhängnis, dem – um endlich wieder zum Thema zu kommen – die in vielerlei Hinsicht einzigartigen Stanser Musiktage von Anfang an konsequent ausgewichen sind. Was nun auch meine Frage danach, was man denn anders und der Gegenwart angemessen machen wolle, wirklich blöde dastehen lässt. Die SMT waren von Anfang an ein Fest für die Fragen und für das Unbekannte, für die Zukunft und für die Kunst. Das Dorf an sich sorgt schon dafür, dass es nicht wie das SpaceX Starship explodieren kann. Das Engagement der Stanserinnen ist enorm gross, jedoch nicht unerschöpflich – was man vielleicht auch durch die emotionale Schaumbremse nach der Pandemie etwas spüren kann. Aber immerhin sind es ja genug und es läuft wie geschmiert. Und der eigentliche Zaubertrank, von dem die meisten im Dorf und immer mehr Besuchende von ausserhalb zu saufen so begierig sind, weil er unverwundbar zu machen scheint gegen die Nachrichten aus der brennenden Welt, der wird wie immer auf wundersame Weise in den Monaten vorher in stillen Kammern zusammengerührt: Es ist das Programm, das in der Tendenz stets die Progression gegen das Regressive setzt, also das Entdecken des Unbekannten gegen die Selbstfeierei, den Wagemut gegen das Rechthaben, das Abenteuer gegen jede Garantie.

            Nun habe ich unangemessen und zudem unzulänglich theoretisiert, dabei scharren Sie schon längst mit den Hufen, um auf die Musikweiden zu stürzen und sich in den Erkenntnissen und musikalischen Momenten zu suhlen, welche die Stars, die heute durch Ihre Gassen streichen, für Sie vorbereitet haben, wiederum in vielen manchmal einsamen, ungesehenen und nur mässig beleuchteten Stunden hinter den schweren Vorhängen des Showgeschäfts. Aber es ist doch jede Gelegenheit zu nutzen, mal auf all das hinzuweisen, was geschieht, bevor man sieht, dass etwas geschieht. Das Programm entsteht viele Monate im Voraus, noch vor allen Entscheidungen, ob es denn wohl wird sein dürfen, und die Projektion, der grosse Vorsatz, mit was Sie in Erstaunen zu setzen wären, wird in vielen Würdigungen doch leicht übersehen.

            Kommen wir also endlich von der Theorie in die Praxis zurück, wobei die erste Nachricht leider sein muss, dass das Konzert von Julia Reidy im Unteren Beinhaus nicht stattfinden kann. Womit die gestern besungenen ruhebedürftigen Stanser Schädeleien also einen stillen Abend haben werden, bis um halb elf Abican dort spielt. Dafür darf ich Circuit des Yeux empfehlen, das Trio von Haley Fohr, und wenn, wie im Programm steht, bei ihr alles auf Katharsis und Erlösung drängt, dann. ist das in der Kapuzinerkirche ja ganz gut platziert. Wie bei den Stanser Musiktagen eh wundersamerweise alles seinen Platz zu finden scheint.

            Von gestern habe ich nicht viel zu berichten, denn ungeplante Ereignisse auf dem Dorfplatz, dem Stanser Verhängnis -äh, Verkommnis, liessen mich die Zeit vergessen. Wir sprachen, was hier ungewöhnlich erscheinen mag, über das Fischen auf Ostsee-Dorsch, denn Stans hätte einmal beinahe – was kaum jemand weiss – die Schweizer Nationalmannschaft in der Hochseefischerei aufgestellt. Und unser damaliges La-Paloma-Chörli auf dem Oberdeck der MS Seho hätte durchaus Qualitäten gehabt, Ihre Ohren bei den nächsten Musiktagen zu verwirren, von unsere Fischerhosen her von leichten olfaktorischen Kabeljaunoten begleitet. Tempi passati; der Ostseedorsch ist mittlerweile so gut wie ausgestorben und unser schlechtes Gewissen ist gross. Um so grösser, fürs Erinnern ein Konzert verpasst zu haben. Das darf Ihnen nicht passieren; lassen Sie sich von Unerwartetem überraschen; lediglich das Bobar Marcovich Orchestar ist bereits ausverkauft. Treiben Sie durch das Programm; nehmen Sie Ihre Aufgabe ernst, als Hauptdarstellende eines Festes, das schon immer manches anders macht.

            Meine Sätze des Tages stammen ebenfalls vom gestrigen Dorfplatz und lauten:  "Ich geh dann gleich dort unten hin und meine Frau ins Kollegium, das ist doch auch mal schön." Und: "Ja, nein, was, schon vorbei?"

            Ach so, ja, schnell noch das kleine Lied vom Mond, Au clair de la lune, dessen Melodie übrigens anno 1860 mit einem Phonautographen aufgenommen wurde und als erste Tonaufnahme der Welt gilt.

 

Zieht der Mond so stille / übers nasse Tal,

schnarchts aus jeder Rille / wie schon dazumal.

            doch dann im Aprille / wacht man hier erst mittags auf und

feiert wie Bazille, / hört erst Sonntag auf.

 

Musik nährt die Kinder / und auch manchen Greis.

und sogar die Rinder / macht sie völlig heiss.

            Nach fünf wilden Tagen / wird es wieder still,

doch der Traum im Magen / zehrt noch von dem Thrill.

 

Stanser Wortmusik vom Mittwoch, 19. April

Stanser Wortmusik vom Donnerstag, 20. April