Stanser Wortmusik von MC Graeff

Tägliches von unserem Festivalschreiber

Stanser Wortmusik von MC Graeff, Mittwoch, 19. April

Geschätzte Musikschlucker und Tagehörerinnen, Winkelriedende und Wiedererwachenswillige, sehr geehrte Damen und Herren,

nun geht es also los mit den neuen, alten, liebgewonnenen, überholten, völlig anderen und abermals frisch zu entdeckenden Stanser Musiktagen! Haben Sie eine Ahnung, wie es wird? Nein, wie denn auch. Das verbindet uns in diesem Moment, obwohl es doch längst schon angefangen hat, vorhin, mit einem ersten Stanser Hörsturz äh, -gang, Hörgang, Stanser Hörgang, und dem Eröffnungskonzert mit Gabriel Niedlispach Pupato in der Cappuchinokirche. Und hinter mir auf dem Dorfplatz spielt Cicek Taksi noch vertonte Gedichte aus der Diaspora. Schon sind wir mittendrin im grossen Durcheinander, Übereinander, Miteinander; man rennt von hier nach dort, um etwas aufzuschnappen, stapelt die Melodien im Hirnkasten, sortiert sie um und ein, wirft sie ineinander, auf dass sie nachher, wenn wir – von den Ereignissen dynamisiert – schlaflos in den Federn liegen, als grosses Ganzes wiederhallen, als Weltmusikcluster im eigenen kleinen Dorfkasten und aufs Schönste beweisen, was Friedrich Nietzsche schon sagte, dass nämlich ein Leben ohne Musik ein sinnloses sei. Gut, mit allerdings auch, aber darum geht es hier nicht.

            Was genau sich hier auf meiner kleinen Ecke in den nächsten Tagen abspielen wird, ist als "Stanser Wortmusik" überschrieben, was allerdings wenig Klarheit vorausschickt. Ich weiss es nämlich selber noch nicht genau. Der Plan war für 2020 gefasst, für das offizielle 25. Mal der Musiktage, und wie Sie sich möglicherweise noch erinnern, wurde das zu einem Geisterjubiläum, zu einem Festival der Imagination. Heute ist kaum mehr zu glauben, dass Sie in jenen Tagen wie scheue, wilde Grosskatzen oder wie verwilderte Schosshunde durch die Gassen und Strassen und auch einmal verwegen quer über den Dorfplatz schnüren konnten, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Alles Öffentliche, jedes Beschnuppern eines anderen Lebewesens wurde zur Gefahr; jedwede Äusserung war von Ungewissheit geleitet und tatsächlich, ohne jeden Scherz, strich ja auch der Schnitter keuchend umher, wetzte seine Klinge und klopfte an diese und jene Türen, Fenster und Hirnschalen. Alles Gegebene war ausgehebelt; die Sanitärpapiere wurden heimlich in den Tresorraum der Kantonalbank verbracht und ProphetInnen jedweder Couleur schwenkten ihre Banner, von denen heute nur ein paar Unverbesserliche, masslos Volle übrigblieben, die aber eher belegen, dass nicht nur Corona umging, sondern offensichtlich auch der Rinderwahn.

 

Für jenes 25. Jubelfest war vorgesehen, dass ich hier in einer Ecke stehen und ein halbstündiges Live-Feuilleton bieten sollte, mit Gästen und Posaune, Gedichten und sonstigen Erweiterungen des musikalischen Rahmens, und stattdessen wurde daraus ein Geisterheft, eine Beschreibung des implodierten Festivals aus der Ferne. Anfang 2021 durfte ich dann zwei Seiten Ankündigung für das 041 Kulturmagazin schreiben, hoffnungsvoll projizierend, was denn geschehen solle, bis es dann abermals nicht geschehen konnte; die Musiktage fielen erneut in Agonie. Für 2022 sah es besser aus; langsam durfte wieder die Fahrt ins Blaue aufgenommen werden und klugerweise entschieden sich die SMT für eine Sonderedition, sehr klein und fein, ohne all das allerdings, was die eigentlichen Musiktage ausmacht, nämlich das Beben im Dorf. Ich war abermals eingeladen, um Sonderwege zu bespielen, jedoch so im eigenen Überlebenwollen gefangen, dass es nichts werden konnte. Und nun, als ich schon ganz sicher davon ausging, dass es das war mit der Wortmusik, lediglich ein Versuch, eine Geisterplapperei, ein schöner neuer Gedanke im gewohnten Konzept, nun schrieb mir die neue Crew, nichts bleibe, wie es war und alles sei anders, die Welt stünde ja nicht still und einfacher würde sie erst recht nicht, eigentlich liesse sich das alles ja gar nicht mehr machen und umso dringlicher sei es doch, man würde also wieder in die Vollen gehen und meine Ecke - die sei halt noch frei. Allerdings sei es nun keine eigentliche Ecke mehr, sondern eine nach innen gestülpte, also eine Binnenecke ausserhalb der Quadratur des Kreises, eher ein umgekehrter Vorsprung, nicht auf den Dorfplatz ragend, sondern ins Innere, zu Ihnen, zu den Gierigen, Neugierigen, Durstigen, den guten Seelen der Stanser Musiktage, zu denen, die gleich in unberechenbare Nächte aufbrechen, als wär’s das erste Mal.

            Nun, um endlich zu beginnen, stehen wir also hier und wissen nicht, was kommt. Die Sonne ist hinterm Fuss des Stanserhorns verschwunden, die Düfte aus den Grossküchen streichen durch die Gassen wie Lemuren und scheppern leise mit den ersten leeren Flaschen, um all jenen zitternd hinter den Gardinen auf das Geschehen Hinausläuernden zuzuflüstern:

            »Kommt, kommt; alles ist wie immer und nichts, wie es war, aber wir brauchen Euch und Ihr braucht uns, so lasset die Spiele beginnen! Nunc stans, das stehende Jetzt ist wieder da, fünf Tage klingende Ewigkeit in einer fliehenden, tauben Zeit. Wozu hat der Mensch das Dorf denn erfunden, wenn nicht für Euch?« – Und sogar der alte Winkelried auf seinem Kriegerbrünneli beginnt zu singen:

 

Fort ist manche Plage, / andr’e zieh’n herauf,

doch die Musiktage / nehmen ihren Lauf.

            Mancher schliesst die Ohren / vor der holden Kunst:

jener ist verloren, / hockt allein im Dunst.

 

Öffnet Eure Klage / dem, was Ihr nicht kennt.

Es sind nur fünf Tage, / bis Stans wieder pennt.

            Jeder Ton sei Frage, / Antwort wär verkehrt.

So entsteht die Sage, / Stans sei unerhört …

 

Nun fragen Sie sich, warum dieses törichte kleine Lied zum Einsatz kommt, wo die SMT doch so viel Hochkomplexes, Neues, Internationales und Multitonaleres zu bieten haben … Es wurde anno 1860 mit einem Phonautographen aufgenommen und gilt – 17 Jahre vor Edisons Phonographen-Patent – als allererste Tonaufnahme der Welt, wodurch es für unsere Branche einen einzigartigen, verhängnisvollen Stellenwert hat.

 

Doch jetzt ist schon wieder Eile geboten; ich soll Sie ja nur befeuern, aber nicht aufhalten, weshalb ganz pünktlich Schluss sein muss, auf dass Sie mit winkenden Armen und hängender Zunge durch das Dorf stürzend gerade noch rechtzeitig zu den Konzerten gelangen. Was wäre eigentlich zu sagen? Als ich mich gestern Nachmittag zum Schreiben unter die Linde setzte, konnte daraus nichts werden, denn schon setzte das ein, was erstens für Stans und zweitens und besonders für die Musiktage so bezeichnend ist: Sofort sassen fünf, sechs vertraute Gestalten an Tisch und es ging direkt zur Sache: Krautrock aus den Sechzigern, Ich kenne doch alles, ach was - nichts kennst du, das Frumpy-Album hab ich in Kalifornien gefunden, die sind da viel günstiger und was soll ich bloss mit meinen 20 Tausend Negativen machen? In Dingsda gibt es gerade eine Ausstellung über die Unschärfe, wieso kommst du eigentlich aus Zürich und Lokomotive Kreuzberg kennt ja auch niemand mehr. Eigentlich hätte man nach einer Stunde schon wieder vollgefüllt abreisen können, mit reichem Gepäck zum Nachklingenlassen, und das alles ohne den tatsächlichen Musikkonsum. Um diesen und viel mehr ging es anschliessend aber hier im Zelt, beim Nidwaldner Kulturforum zum Stand der Dinge in der Nidwaldner Kulturpolitik. Als Zaungast aus einem fernen, fernen Land (also aus Luzern) haben mich verschiedene Gegebenheiten in Erstaunen versetzt: Zuerst natürlich, dass es ein solches Treffen offenbar bisher nicht gegeben hatte, dann, dass viele freie Kulturschaffende aus dem Kanton, die sogar ich als Dütscher kenne, nicht dabei waren, und natürlich, dass der offenbar überfällige Kennenlern-Anlass mit Podium und einem ersten Aufriss sehr vieler drängender Fragen, die auch schon vor dem Seuchenloch unter den Nägeln gebrannt haben müssen, im "Nunc stans", im stehenden Jetzt des Zeltes durchgeführt wurde und nicht mehrstündig, vielleicht mit Arbeitsgruppen, Protokoll, großem Suppenkübel und Beschlussfassungen für nächste, dringende Verständigungen, in einem echten Auditorium. Fabian Hefe Christen hat glänzend durch den zeitlichen Mangel geführt, doch viel mehr als eine sicherlich bekannte Feststellung dessen, was nötig wäre, konnte es nicht sein. Dabei wären die Musiktage, gerade während sich internationale Künstlerinnen vor Ort befinden, möglicherweise ein idealer Rahmen für die vor allem für das neue Erwachen des Kulturlebens in einer auf immer veränderten Welt nötige Arbeit, auch in einem Kanton, in dem es – wie gesagt wurde – nur relativ wenige hauptberuflich Kulturtätige gibt, was vielleicht daran liegen mag, dass wohl viele eben den Kanton verlassen müssen, um – dann eben anderswo – vom Kulturschaffen zu leben. Eine fehlende Lobby wurde angemerkt, was sicherlich stimmt, aber doch dazu reizt, es zu hinterfragen: Eine solche hätte idealerweise doch überwiegend aus nichthauptberuflichen Künstlerinnen und aus dem reichen, diversen und dankbaren Publikum zu bestehen, das folglich kulturpolitisch viel mehr zu animieren und einzubeziehen wäre und das vor allem doch da sein muss, wenn in einer solchen Gemeinde neben vielem anderen ein solches Ereignis wie die Stanser Musiktage stattfinden kann … Doch wenn das Kulturleben zweifelsfrei mehr ist als einzelne kreative Leistung, ein Dekorieren des Alltags und ein gefälliges Unterhalten der Selbstgewissheiten, wenn es nämlich wie gesagt der Werkzeugkasten des gesellschaftlichen Zusammenhalts und damit auch der Demokratie an sich ist und hier nun staatlicherseits vor allem aus Lotteriemitteln finanziert wird, ist die kantonale Kulturförderung dann letztlich nicht nur ein Glücksspiel, in dem man auch die gestern gar nicht erwähnten Grossaspekte aufs Spiel setzt, dass die Kunst und Kultur unverzichtbare, lebensverändernde Operatoren der Bildung, der Gesundheit und – für alle leidenschaftlichen Zahlenschieber – auch des Mehrwertes sind? Dass dies hier strukturell dem Glück, dem Zufall, dem Spiel und damit auch den Krisen, den mentalen Wogen und dem gönnenden Wohlwollen unterworfen ist, war eine so ernüchternde wie animierende, appellierende Illustration. Der Co-Leiter der Stanser Musiktage, Candid Wild, wies zum Glück noch dringend auf das Unglück all derer, die Kulturgelder benötigen, hin: dass nämlich jeder Betrag, den man glücklicherweise bekäme, einer anderen Aktivität unglücklicherweise fehlen würde und dass es also lediglich um das Verteilen eines Kuchens geht, der formal vielleicht rund und somit aufteilbar ist, dem es jedoch nicht nur an Volumen, sondern auch an Zutaten mangelt.

            Spielen Sie also nicht nur Lotto, die stechenden Nieten greifend wie ein Winkelried, sondern seien Sie Teil der Lobby, die so nötig ist: Geniessen Sie das mit allen teilbare Glück der kommenden Tage, doch wenn Sie dann Nacht für Nacht nach Hause schlingern, vorerst gesättigt und den Kopf voller Rhythmen und Melodien, dann denken Sie doch bitte auch daran, dass das alles nicht nur ein Glück für wenige sein sollte, sondern viel mehr noch eine Absicht für alle. Gerade dieses Jahr mit einem wiederauferstandenen musikalischen Miteinander an einem in jeder Hinsicht ausserordentlichen Ort, mit wieder möglichen eintrittsfreien Erlebnissen, mit Notenflut und Dichtungsschweiss, mit so vielen Erinnerungen wie mit Zeugungsakten zukünftiger Stars und Sternchen und mit allem Unbenennbaren, Unzählbaren, Unevaluierbaren, was es braucht, um Hoffnung und Verstand über das Glück zu stellen, gerade dieses Jahr braucht nicht nur Ihr zügelloses Geniessen, sondern Ihre hemmungslose Freude an der Erkenntnis, dass es ohne Sie nicht geht. Das Lotto ist ein Spielball der Politik, doch die Lobby sind Sie.

 

Das wollte ich alles gar nicht sagen. Das Thema war eigentlich auch das Zitat des Tages:

            > "Wann wird es wieder so, wie es nie gewesen ist?"

Doch die Minuten rinnen schneller weg als das Geld. In einer Minute beginnen die Fidelis Bigband und El Ritschi mit einem musikalischen Big Bang – oder Gangbang – wir werden sehen – auf dem Dorfplatz, danach müssen Sie rasch ins Chäslager, wo zum ersten Mal die Klanginstallation der "Echos vom Eierstock" läuft, und unverzüglich weiter ins Kollegium, zum Insub Meta Orchestra, von dem ich tatsächlich schon in Wuppertal gehört habe. Ob das was heissen will? Finden Se es heraus, denn dafür gibt es tatsächlich noch Karten! Schnell, schnell; schon am Sonntag ist alles wieder vorbei! Wir sehen uns morgen zur selben Uhrzeit hier an diesem Eck.