Stanser Wortmusik von MC Graeff

Tägliches von unserem Festivalschreiber

Stanser Wortmusik von MC Graeff, Donnerstag, 20. April

Sehr geehrte Damen und Herren, ob in Dur oder Moll gewandet,

herzlich Willkommen abermals bei der Wortmusik, der kleinsten Randerscheinung der Musiktage, der einläutenden Plapperei zur Vor- und Nachbereitung des Erlebten, zum Zusammenkehren des Liegengebliebenen, zum Einschwingen auf den zweiten Abend, wohltemperiert, doch glücklicherweise ohne Klavier. Um eine kleine Gefälligkeit habe ich zu bitten, nämlich während der wenigen Minuten die eigenen Gespräche nicht noch anschwellen zu lassen, denn dies ist – auch wenn es lediglich geduldet aussieht – eine offizielle Veranstaltung der Stanser Musiktage und ich habe sie nun einmal durchzuführen und mich in Ihre Lanzen zu stürzen. Natürlich liegt es mir fern, Ihr Beizenerlebnis in dieser tollen Loge hoch über dem Getümmel damit zu beeinträchtigen, doch manchmal klafft eben eine Lücke zwischen dem Konzept und dem wahren Leben, was alle Kulturveranstalter nur zu gut kennen. Vor allem, wenn das grosse Musikfest mit allem Drum und Dran wieder neu zu lernen ist. Seien Sie sicher, dass sich die Wortmusik im nächsten Jahr an einen anderen Ort verziehen wird. Dorthin, wo sie hingehört; ins Beinhaus vielleicht …

 

            [Au clair de la lune]

a/b      Stanser Schädel staunen, / was sie hör’n vom Platz.

a/b      Alle Gräber raunen: / Was soll der Rabatz?

a/c                  Eure neuen Launen / klingen uns gemein.

a/c      Himmlische Posaunen / hören wir allein!

 

a/b      Doch wer lebt, will singen, / bis die Nacht verbrennt.

a/b      und er bringt zum Klingen, / was vom Tod ihn trennt.

a/c                  Jeder Ton muss ringen, / mancher ist tabu.

a/c      Doch die Toten zwingen: / Bald ist wieder Ruh!

 

Diese kleine Melodie wurde übrigens anno 1860 mit einem Phonautographen aufgenommen und gilt als allererste Tonaufnahme der Welt.

            Immission und Emission sind wesentliche Faktoren eines Musikfestes; die Menschen strömen zusammen und haben sich – was doch den Mittelpunkt dessen ausmacht, was wir Kultur nennen – viel zu erzählen. Das ist unser ureigenes Bedürfnis, vor allem, wenn der Anlass kein herrschaftlicher Akt ist wie zum Beispiel in der Oper, wo man sich für das Renommee, dabei gesehen zu werden, gerne mal drei Stunden anbrüllen lässt. Auch dort sind nur manche an der erzählten Geschichte interessiert; andere nehmen es halt hin wie eine Vorsorgeuntersuchung oder das Auto die Unterbodenwäsche und merken gar nicht, was sie dennoch davon haben. Dass die Musik als in Schwingung versetzte "Luft mit Inhalt" nämlich Prozesse im Körper und im Gemüt auslöst, wie – in den meisten Fällen jedenfalls – wohltuend sind, unsere Organe massieren und Gedanken entstehen lassen, die wir sonst so nicht gehabt hätten.

            Schon sind wir mittendrin im gestrigen Abend, bei einem Konzert, wie es einzigartiger nicht hätte sein können. Das Insub meta Orchestra brachte von seinen 65 Mitgliedern zwar nur 31 mit, doch sie alle sind mit höchst diversem Instrumentarium SolistInnen, indem sie mit eigenem Klangvermögen, nicht mit normierter oder militärisch geregelter Temperierung, sondern mit identifizierbarem Ausdruck zusammen agieren. Die Partitur, wie auch immer sie entstanden sein mag, sieht aus wie eine konstruktivistische Literaturgrafik des Bauhauses, und anders, als man vermuten mochte, blieb genau das, was gemeinhin zur Begeisterung führt, komplett aus: das maximale Volumen nämlich, der Generalcluster, das vulkanische Inferno, das die Zuhörenden leichterhand vom Hang ins Tal des Dorfes zu spülen imstande gewesen wäre. Stattdessen war der Klangkörper ganz nach innen gekehrt, ein Organismus aus dreissig tönenden Leibern, in der Mitte fast versteckt der Impulsgebende des Abends, und plötzlich begann dieses Tier ganz sachte, doch mit beängstigender Überzeugung aufzuwachen und zu leben, zu pulsieren, und seine Innereien meldeten sich im Rund dieser dumpfen kräftigen Herz-Lungen-Maschine zu Wort, setzten ein und aus, agierten miteinander wie in Äonen gewohnt, hielten sich in ständiger Balance, umfingen uns Zuhörende und versicherten uns ohne jede Erklärung, dass uns in dieser Eruption des Leisen kein Leid geschähe. So muss es beim friedlichen Ertrinken sein, wenn der Lärm der Welt schlagartig verblasst und dich nur noch das Rumoren der eigenen Organe von innen umfängt, ein schwer aushaltbarer und doch so vertrauter Gegenpuls zum alltäglich Gewohnten, ein Knispern und Blüttern, Zilpen und Stascheln, ein Bloppern und Reipzern, es könnte auch der Funkverkehr der Satelliten sein, wenn sie sich einst als künstliche Intelligenzen von den Befehlsketten ihrer miteinander verfeindeten Erschaffer lossagen und zu einem einzigen vielstimmigen Wesen werden, das sich um unser Dasein legt. 

            Und das Ohr wurde Herz, das Herz ein Ohr, ein Hirn, ein Magen, und diese Musik eine Bildung des morgigen Lebens, eine Ahnung davon, wie es klingen kann, wenn das heutige versagt, versiegt, vertrocknet. Wir hätten noch Jahrhunderte weiterhören können in diesem wechselwarmen Leib in der grossen Rotunde des Hagenbeckschen Tierparks, wären wie die Musizierenden selbst füreinander da gewesen, miteinander, um den multitonalen Puls nur dadurch am Leben zu halten, doch auch die Schule des Hörens hat mal Pause; draussen und noch über dem Dorf schaltest du das Handy wieder ein und hörst das Donnergrollen in Khartum, in Bachmut und überall, schon taucht das Leben wieder auf, in den Lärm.

            Wo hätte dieses Konzert, das man als Erweckung eines Wesens ja kaum so nennen kann, stattfinden können, wenn nicht an den Stanser Musiktagen? Die Gelegenheiten für das Insub Meta Orchestra sind tatsächlich rar und so ist der Mut der Veranstalter, das wertvollste Wesen des Festivals in der Diaspora erblühen zu lassen, viel mehr als eine Arbeit für das Publikum, sondern ein aktiver Eingriff am offenen Herzen der Gegenwartsmusik. Was für ein Glück, die Zuhörer mitsamt der Mitarbeitenden nicht mehr waren als die Ausführenden. In höchster Konsequenz wäre dies ein Konzert für einen Menschen, so allein, als stürbe er dabei.

            Womit wir wieder beim gestern schon angesprochenen Glück wären, bei der grossen Lotterie, von der in diesem Kanton jedwede Förderung der Kultur abhängig gemacht wird, als sei sie lediglich etwas zu Gönnendes, manchmal auch zu Erduldendes, ein Anhang für den allfälligen Apero zu Ehren des tausendsten SUV im Dorf. Dass aber ein solches Konzert ein junges Leben zu schulen oder ein älteres zu verändern in der Lage und somit auf eine subtile Weise – wie jede echte Kunst – auch politisch und gesellschaftsbildend relevant ist, davon haben die meisten Nichtkulturpolitikerinnen in der Regel so wenig Ahnung wie auch davon, dass die Stanser Musiktage inmitten der besonderen, meist kleinen Festivals exemplarisch dafür stehen kann, dass hinter jeder Bühnenkunst Dutzende, hunderte, tausende Handwerkerinnen stehen, die nicht nur die Maschinen entwerfen, bauen und bedienen, welche die Getränke-Jetons ausstanzen, sondern diese auch bedrucken, ausliefern, verteilen, einsammeln und sortieren, all jene, die das Licht auf uns werfen und die Frequenzen verwalten, die Baumfällerinnen und Sägewerkenden für die Bretter, die nicht nur unsere Welt bedeuten, sondern sogar noch den Wein umkisten, auf dass er gut an den Ort der Kunst gelange, jene ebenso, welche diesen Wein dann in die von wem eigentlich polierten Gläser schenken und die allesamt mithelfen, dass das Dorf zur Bühne werden kann, und die, wenn sie das erste Mal dabei sind, noch ganz klar erkennen können, dass sie nicht nur dienen, sondern auch etwas lernen und dass das fest der Musiktage immer auch eine Schule des gemeinsamen Lebens ist.

            Vom Dorfplatz brachte ich gestern natürlich tausende Wörter heim, doch man muss sich ja entscheiden: Ein ehemals junger und heute sehr gefragter Tontechniker erzählte, wie er hier in Stans lernte, Kabel richtig zu rollen und Kisten zu packen, und wie es Jahr für Jahr weiterging bis zur Berufswahl und Ausbildung, zum Ruf als einer der besten (was er nicht selber sagte), und dass die SMT ihm die eigentliche Schule waren, so wie bei hunderten in allen Gewerken, wovon die meisten in der Politik Verhangenen nur allzu wenig wissen wollten, weshalb das Glück all dieser Menschen in der Innerschweiz eben weiterhin vom Glücksspiel abhinge … Es kann nicht oft genug erwähnt werden und wird eben doch meist verschwiegen, dass die Anzahl jener, die handwerklich und organisierend in den Kultur- und Kunstbranchen arbeiten, zum Beispiel in Deutschland die Zahl der in der Automobilindustrie Tätigen übersteigt.

            Auch die anderen Dorfplatzgespräche waren belebend, doch mitgebracht habe ich von ihnen nur den Satz: "Da geh ich lieber zu Bruce Springsteen!" – Das scheint mir aber nicht tauglich als Zitat des Tages. Dafür sei gewählt, was auf der Rückseite eines Verstärkers stand: "Vor Einstellen Röhren einpressen!" Über die Möglichkeiten zur Interpretation kann man lange nachdenken.

            Schnell jetzt; die Zeit rennt schon wieder davon und Sie haben doch pünktlich zu sein, zum Beispiel um 20 Uhr in der Pfarrkirche bei "Belugueta", wofür es wohl noch Karten gibt. Das ist ein Quintet aus leicht instrumentalisierten SängerInnen mit Liedern auf Okzitanisch, wie man es im Südwesten Frankreichs spricht – oder eben immer weniger, denn von jenen Sprachen und Dialekten, die so selten sind wie manche Erden, sterben nicht ganz so viele aus wie Säugetier- und Vogelarten, aber doch, wie man sagt, täglich etwa eine. Wie bei den Tieren natürlich nicht von selber, aus entwicklungsgeschichtlicher Übermüdung oder Langeweile; sie werden verdrängt, fortrationalisiert oder gar verboten. Auf sie zu bestehen macht wenig Sinn und ist oft mit regressiven Tendenzen des Historisierenden, der Volkstümelei oder des Nationalen verbunden. Aber sie zu pflegen, zu erhalten und mit Erzählungen, Liedgut, Experiment und Dialektik zu benutzen, ist etwas anderes, das ist ein Beatmen der Vielfalt, die im übrigen auch für die vereinfachten, nivellierten und durchsetzungsstarken Kulturen (und für Bruce Springsteen) überlebensnotwendig ist. Es ist wie in der Natur; es ist Natur.

            Nun können wir fragen, was uns die Fähigkeit zu irgendeinem Zungenschlaglaut in der hinteren südafrikanischen Kapprovinz denn bringen mag. Genau so viel wie der Obernidwaldner oder Unterobwaldner Betruf in westperuanischen Kulturdiskursen, nämlich nüüt. Mit dieser etablierten und vorderhand logischen Haltung ist eines gewiss: beides wird verschwinden. Zusammen mit dem "anderen" löscht man auch das "eigene" aus; in dieser Hinsicht sind die Ereignisse im Gleichgewicht. Wie gut und wie wundersam, dass man heute und hier, gleich nebenan, noch okzitanische Lieder hören kann! Und wie gleichgut, dass sich auch der lokale sprachliche Alltag endlich in Veränderung befindet, auch wenn sich hinter den Beizenfenstern ein ordentliches Gelärm dagegen erhebt: Das "Echo vom Eierstock" schickt sich an, die traditionelle Jodelliteratur auf den Kopf zu stellen, dorthin, wo sie hingehört. Besuchen Sie die Klanginstallation im Chäslager; das Konzert haben Sie und ich bereits verpasst. Doch wenn Zeitungen wie zum Beispiel die Weltwoche von gestern weiterhin so sauber ihr eigenes Klischee bedienen, indem sie schon eine fallweise rein künstlerische Relativierung des traditionell etablierten Frauenhasses als Cancel-Culture bezeichnen, dann hören wir hoffentlich noch viele weitere Konzerte von diesem Chor und davon, dass das Leben und Wandeln einer Sprache über zerbröselnde und tradiert lächerliche Herrschaftsansprüche hinaus wesentlich mehr ist als Kunstproduktion, ebenso nämlich Bildung fürs Leben und Schule der Herzen. Und wenn die Weltwoche mit bangem Zittern noch fragt, ob es nicht vielleicht doch noch ein paar dringendere Probleme zu lösen gäbe, dann fällt es doch fast allzu leicht, die Nachricht herbeizuziehen, dass der Weltwochengötti Putin gerade die Bolschoi-Ballettproduktion über den Tänzer Rudolf Nurejew verbot, da sie Propaganda für nichttraditionelle Werte sei.

            Was hat das nun mit den Stanser Musiktagen zu tun? Nichts beziehungsweise alles. je nachdem, was Sie hören wollen. Nur das, was sie immer schon zu hören meinten oder auch das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält, das Neue, Uralte, das, was sich entwickelt, was sie überrascht und in den Traum begleitet, was Sie nicht profitieren lässt, sondern den Lebensmut Ihrer Kinder für eine zerbrechende Welt profiliert, das also, was kein Glücksspiel ist, sondern nur Glück, was mir mit diesen Musiktagen haben. Jetzt aber schnell - zur Bar, zum Dorfplatz, auf die Tribünen und ab in die zweite Nacht. Bis morgen an dieser Stelle.

 

Stanser Wortmusik vom Mittwoch, 19. April