Stanser Wortmusik von MC Graeff

Die tägliche Show unseres Festivalschreibers MC Graeff hier zum Nachlesen

Stanser Wortmusik, Mittwoch, 10. April

Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Ohrenspitzende und Augenhörende, hochverehrtes zukünftiges Publikum der 28. Stanser Musiktage,

wie schnell doch die Zeit vergeht … Kaum wussten wir nicht, wie dieses endlos lange, vor uns liegende Jahr denn zu überstehen sei, seitdem wir uns am Sonntag, den 23. April von den Musiktagen verabschiedet haben und dieser ganze, grosse, einzigartige das Dorf umfassende und es in Schwingung und Vibration versetzende Musikapparat im Depot verschwand, und schon ist es wieder soweit: »Nunc Stans« regiert, fünf Tage Ewigkeit und eiliges Verharren, die Pole hören auf zu wandern und die Gezeiten stehen still, die Stürme treten staunend auf der Stelle, die Höllenfeuer stellen das Brausen ein und sogar die Wolken stellen sich vertikal, um besser hören zu können und ja nichts zu verpassen. Erinnern Sie sich noch, dass ich die letzte «Au claire de la lune»-Variation zu singen versuchte:

Wenig bleibt für immer, / selbst in der Musik.
Hockst du auf dem Zimmer, / denkst an Stans zurück,
spürst du jenen Glimmer, / den das Fest dir gab,
und im Ohr der Schimmer / hält dich lang auf Trab.

Hörst du noch das Rauschen, / war’s wohl zuviel Wein.
doch du willst nicht tauschen, / schaust nicht traurig drein.
In nur fünfzig Wochen, / nach nur einer Weihnachtsgans, schon
schwingst du deine Knochen / abermals nach Stans.

Und genau da sind wir jetzt, erneut am Anfang, mit dem grossen Zittern der Erwartung. Eines hat sich allerdings nicht erfüllt, die damalige Bitte, «hoffentlich nicht verzweifelter zu sein angesichts der Welten rings umher.» – Doch das ist ja nicht der Musik anzulasten, ganz im Gegenteil: Diese hat schon immer dabei geholfen, schwierige Situationen zu verstehen und zu überstehen. Und so ist ihr Vorhandensein und ihr Weiterspielen – im Shakespearschen Sinne, denn dieser schrieb: «Falls die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!» – doch ein unverzichtbarer und niemals zu hoch einzuschätzender Teil unseres Existierens.

Sogar das, was wir lediglich als unterhaltend, repetitiv und zufällig auffassen mögen, flicht sich zuweilen in das weltlich relevante Empfinden ein, sofern die Ohren weit genug offen sind. Heute morgen bei der Frühzigarette in Langensand vor Luzern polterte ein mir unsichtbar bleibender Garten- oder Forstbearbeitender Mensch durchs Unterholz und sang «Vamos a la playa», den Sommerhit des Jahres 1983. Manche der Anwesenden mögen sich daran erinnern; es war die Zeit der zitronenfarbenen Karottenhosen, der in Popper und Punker – also in zwei gegeneinanderlaufende No-Future-Bewegungen – gespaltenen Jugendwelten und der irrationalen Etablierungen des unbeschwerten Ultrakonsums wider besseres Wissen. Die Hymne von Sonne, Strand und guter Laune hat jedoch, sofern man ihren Text denn wahrnehmen möchte, einen doppelten Boden und stellt eine Italopop-beschwingte Disco-Dystopie dar. Damals war nämlich kurz zuvor ein mit Atomwaffen beladener US-Bomber in der Nähe des spanischen Orts Palomares abgestürzt. Zwei der Bomben zerbarsten beim Aufprall und verseuchten weite Gebiete der Strandidylle mit radioaktivem Waffenplutonium. Diese Playas sind noch heute großräumig gesperrt, vierzig Jahre und die Langstrecke unserer Lebensbombe später – und in einer Zeit, in der die verloren geglaubte atomare Bedrohung wieder eine ganz neue Dynamik und Brisanz bekommen hat. Ob der singende Landschaftspfleger dies wusste, bleibt unbeantwortet. Von der indirekten Präsenz seines Liedes auf den Stanser Musiktagen wäre er sicher überrascht. Aber genau so und nicht anders funktioniert doch die unermesslich reiche, vielfältige und unberechenbare Parallelwelt der Musik. Also: Jetzt ist Hörenszeit! Trotz oder gerade wegen der Verhältnisse, die dazu imstande sind, uns in gröbere Zweifel über die Sinnhaftigkeit unserer Existenz zu stürzen.

Aber eben, die guten alten Fragen nach dem Warum und So-tun-als-ob, mit ihrer eigenen Sinnhaftigkeit: Am Luzerner Bahnhof bekam ich gestern etwas geschenkt. Sie kennen ja alle Rivella, die tierhaltige Limonade, die es jetzt neu auch tierlos gibt, wobei dann nicht mehr viel übrigbleibt als Wasser und (sogar nun weniger!) Zucker und diverse Hilfsmittel und Regulatoren, um irgendwas zu bewirken, was wir gar nicht näher wissen wollen. Verkauft werden uns also wirklich nurmehr die Plastikflasche für die Weltmeere und genau sieben Buchstaben, einer doppelt, der kostet die Hälfte, folglich nur sechs. That's it. Der stolze Preis dafür, etwas ins Wasser lassen zu dürfen. Wie kommen wir von da aus wieder zur Sinnfrage? Ach ja: Das eine macht lediglich Sinn, weil jemand es behauptet und wir dafür zahlen, nicht zu merken, dass absolut nichts dahinter ist. Das andere, das mit der Musik, ist etwas völlig anderes. Auch sie verbläst sich, nicht in die Meere, sondern in die Atmosphäre. Sie ist nicht greifbar, auch wenn sie Körper sein kann, gegenständlich zu werden imstande ist, uns federleicht umschwebt oder tonnenschwer auf uns lastet, aber erst einmal auch nichts anderes ist als erfundene Beeinflussung von Luft. Der entscheidende Unterschied zu Rivella Gelb ist nicht die fehlende Giftmüllumhüllung, die nur deshalb urinfarben sein muss, um die Markenspezifikation «Gelb» noch begründen zu können, und die als Mikroplastik 450 Jahre lang in den Meeren schwappen wird. Im Jahre 1573 schrieb Orlando di Lasso das Cantione «Wem soll man jetzund trauen» und Shakespeare war neun Jahre alt. Hätte er eine Rivellaflasche in den Fluss Avon geworfen, was wir ihm doch eigentlich allzu gern hätten gönnen wollen, dann wäre die genau jetzt, zu den 28. Stanser Musiktagen, aufgelöst. Der eigentliche Unterschied sind die unmittelbaren Folgen, also die Spuren in der Jetztzeit. Musik ist dazu imstande, aus dem Stand, dem zufälligen oder beabsichtigt erlebten Moment der Wahrnehmung heraus, unser weiteres Handeln und Leben verändern. Gut, man kann jetzt entgegenhalten, das täte ein Hurrikan zuweilen auch, doch dabei sei der Kraftaufwand zu bedenken. Ich habe keine Ahnung, was es kosten würde, einen tropischen Wirbelsturm durch den Stanser Dorfkern zu schicken. Es darf aber angenommen werden, dass die Stanser Musiktage im Gesamten, also seit ihrer Gründung vor 28 Jahren, in der Energierechnung und in den Reparationszahlungen deutlich günstiger sind – und mental ungleich effektiver und vor allem erfreulicher. Wie viele Kinder wurden an den Konzertabenden gezeugt und geboren und erzogen und mit Würsten gefüttert und nach Hause gesperrt und später dann losgelassen, manchmal wider Willen oder heimlich, aus dem Schlafzimmerfenster aufs Schuppendach kletternd und dann an der Regenrinne herab zum Dorfplatz rutschend, wie viele Kinder wohl, die nun selber Musikerinnen und Musiker sind und vielleicht gar nicht mehr hier agieren, sondern auf Dorfplätzen in aller Welt?

Gestern allein vor der Linde im Regen hockend wurde ich gefragt, «ob ich da auch mitmache». Ich sagte «Ja, aber nur eine Kleinigkeit, da oben im Zelt.» Die sehr freundliche Dame schaute mich streng an und meinte: «Na, auch eine Kleinigkeit kann Grosses bewirken!» – Das ist also mein Zitat des Tages für den Eröffnungsabend, denn hier im kleinen Stans wird mit den Musiktagen ungemein viel und ungeheuer Grosses bewirkt, von dem man zum allergrössten Teil jedoch nie etwas unmittelbar erfahren wird, weil es nicht evaluierbar ist wie eine Rivella-Flasche. Meine von gestern wird im Jahre 2473 nicht mehr nachweisbar sein, also zu den 478. Musiktagen. Wer weiss, wie es dann hier aussehen wird und ob man sich noch an den heutigen Abend erinnert?

Sie allerdings werden dies tun, das kann versprochen werden, und sofern Sie noch keine Tickets haben, sind für einige aufregende Konzerte noch welche zu haben. Wagen Sie es. Trauen Sie sich zu, eine andere, ein anderer zu werden. Also, zumindest geringfügig. Die Haarfarbe bleibt vielleicht gleich, aber das Gemüt wird bereichert sein. Etwas besseres kann uns doch nicht widerfahren.

Musik hält noch und fügt wieder zusammen, was in dieser immer weiter zerbrechenden Welt eigentlich unvereinbar war, ist und tendenziell bleiben wird. Die Musik im Gesamten – in all ihrer Unterschiedlichkeit und Deutbarkeit – muss eigentlich unentwegt und jeden Tag aufs Neue das reparieren, was wir in Ängsten, Behauptungen und Inanspruchnahmen zerschlagen und zertrümmern, und wenn man dies bedenkt, ist ihr Stellenwert als zu fördernde Kunst in allen Facetten viel zu gering. Dazu werde ich vielleicht morgen etwas sagen, denn jetzt rennt uns bereits zum ersten Mal wieder die Zeit davon. In diesem Jahr gibts ein Gastfenster in der Wortmusik, da manchen Zuhörenden im letzten Jahr die fünfzehn Textminuten doch etwas lang gerieten. Das Lied, das wir dafür aussuchten, weicht ab vom Weltkatastrophischen und wendet sich der lokalen Gefahrenlage zu, hier am Fusse des Stanserhorns. Die Winkelriedbar ist die letzte Schwelle der grossen Rutschbahn in die Ewigkeit, bevor der Gipfel auf den Dorfplatz trümmert. Genau über solche Ereignisse hat er einmal ein Liedchen geschrieben: Das «Abendlied der Niederungen». Herzlich willkommen, Christov Rolla!

Stanser Wortmusik, Donnerstag, 11. April

Werte Musikhungernde und Vorfreudige, geschätzte Weinbarbesucherinnen und Notenschlüsselverwalter, liebe Klangreisende aus Nah und Fern,

da stehen wir also wieder, am zweiten Abend des Ereignisses, das so schwer mit klaren Worten zu umreissen und am besten einfach zu inhalieren ist und das zugleich schon gar nicht mehr aus dem Legendendorf Stans fortgedacht werden kann: 28 Jahre, das ist im Schnitt des zu diesem kleinen Sonderformat der Wortmusik versammelten Publikums doch ein gutes halbes Leben und das Dorf an sich zwar in der ganzen geschichtsträchtigen Folge seines Bestehens seit den gallo-römischen Brandgräbern beziehungsweise dem Leben und Musizieren derer, die dann dort zum Liegen kamen, ein ständiges Auf und Ab, Hin und Her, Kreuz und Quer, doch im Alltag geht es hier ja eher übersichtlich vor. So stand es mir heute früh vor Augen, durch die fast leeren, kalten Gassen streunend, ein Huschen hier und leises Springen dort zur Arbeit und zur Schule, Wege, die man seit Jahren, Jahrzehnten im Schlaf zurücklegen kann und an denen jedes neue Unkraut, jede Zigarettenkippe eine kleine Sensation darstellen, Mitmenschen, die man an ihrem Schnarchen erkennt, das sich den Weg durch das eine oder andere Fenster ins Freie bahnt, sogar die Spatzen auf den Tischen der geschlossenen Beizen grüssen jeden sich sanft Vorbeibewegenden namentlich; manche Ureinwohner ziehen ihre immer gleichen Bahnen wie gewaltige stumme Karpfen im Teich, das ganze Habitat ein «stagnum», ein stehendes Gewässer eben, das im Verlauf der Zeiten und Monde mal vermottet, versumpft und an den Rändern dorrt und sich dann auch wieder füllt und erfrischt und regeneriert und erneuert, und manchmal komme ich mir selbst schon wie ein Ochsenfrosch vor, dem es seit nunmehr 28 Jahren gestattet ist, hier und dort in den Seerosen herumzuquaken, denn genau damals, als auch die Stanser Weltmusikfreunde sich entschlossen, ihre Tage öffentlich zu feiern, begannen auch ein alter Freund und ich oben an der Kniri die Planung für ein kleines Fest, das den Dorftümpel für ein paar Tage in ungewohnte Strömungen versetzen sollte: Manche erinnern sich möglicherweise noch an die Woche, in der «Das erste Tier» 1997 dann die Melachere vereinnahmte und dort so hemmungslos wirtete, görpste und rumpelte, dass es manche der bemoosten Karpfen in den Schilfgürtel trieb, bis alles wieder still war wie gewohnt. Weder das Tier noch die Musiktage noch das ganze reiche Theaterleben von diesen und jenen noch der Bücherfrühling noch das Chäslager noch die Wolfenschiessener Punks noch der «Hundeschwindel von Moskau» noch zahllose weitere bunteste und lauteste Ereignisse können sich die definitive Verwirbelung des Teiches alleine auf die Fahne schreiben, denn Wetter hat es in diesem Biotop immer schon zur Genüge gegeben, mit Verkommnis, Verhängnis, Verderbnis und Verträgnis, Versöhnung, Verströmung und Verdampfung: Hauptsache, morgens liegt der Dorfplatz in Frieden und Stille im Licht und die Gäste aus aller Welt reiben schlaftrunken ihre Augen und wundern sich, dass ein Dorf überhaupt so sein darf, wie dieses Stans nun einmal ist.

Selbstverständlich gibt es immer auch jene, die sich an jedem Phon stören, das sie nicht selbst hervorstossen oder von dem sie sich, in freiwilliger Verinselung verhangen, unangemessen berührt fühlen. Manche Menschen sind einfach nicht dazu in der Lage, die Lebensfreude, Bewegungslust und Kommunikationsbedürftigkeit anderer auszuhalten, Es war wohl schon immer so, möglicherweise bereits bei den Bärenschädel-Trychelgruppen der Troglodyten schräg gegenüber, in der Rigihöhle. Das ist nichts neues, doch in der Tendenz scheint es derzeit wieder zuzunehmen. Unsere Echokammern werden ja auch immer kleiner, die tägliche Stundenzahl ohne Knopf im Ohr nimmt rapide ab, wodurch die akustische Vereinsamung ständig steigt. Das Optimum ist nicht mehr der kollektive Hörraum, sondern das perfekte und vor allem vorhersehbare Erlebnis ganz für mich alleine. Das mag sich dann auch in der Beurteilung aller Erlebnisse niederschlagen, in der es immer mehr darum geht, ob ich genau das und nichts anderes erfahren und bekommen habe, was ich erwartet hatte. Hier soll das Zitat des Tages platziert sein, gehört gestern Nacht von einem ins Dorf hinabsteigenden Konzertbesucher, überhaupt nicht vorführend gemeint, sondern einfach bezeichnend: «Neinnein, ich hab’ es total nicht schlecht gefunden, überhaupt nicht, gekonnt sogar, aber eben doch sehr eigenwillig und das bin ich halt nicht gewöhnt.» – Ob die SMT es in seinem Fall schaffen werden, den Mut zur Gewohnheitsüberschreitung zu stärken, werden wir nicht erfahren. Dass es dieses ausserordentliche Jahresereignis gibt, um es immer wieder zu versuchen – und dass so viele Menschen es ja auch wissen wollen und es schätzen, sich für ein, zwei beunruhigende Stunden aus dem massgeschneiderten Nichterlebnis reissen zu lassen, das kann man nicht hoch genug schätzen. Zumindest ist es die ständige Erinnerung daran, dass es noch so viel mehr und völlig anderes auf der Welt gibt als das eigene Dorf im Kopf. – Das zweite Zitat des Abends, aufgesammelt gleich unter der Pfarrkirche, lautete übrigens: «Wo bekomme ich jetzt denn noch mein Opium her?»

Das Stagnum zog sich bis in den sonnigen Nachmittag hinein; eine Glocke der Harmonie über dem heute gar nicht nassen Tal. Hier und da sassen Menschen auf den Mauern und schauten Löcher in die Luft, MusikerInnen möglicherweise, die sich in stiller Verwunderung wiederfanden. Mag man ihn glauben, diesen Ort im Einklang mit sich selbst? Zum Glück gingen in regelmässigen Abständen die Pilatusflieger nieder und gemahnten ein wenig an die wirkliche Welt. Mit ein wenig Phantasie konnte man sich vorstellen, dass hier gerade nicht nur Waffenhändler und Drogenbosse, sondern auch die Stargäste des Abends eingeflogen wurden, Rihanna, Jagger und Williams, um gleich in blinkenden Stretchlimousinen durch die Altstadtgassen zu ihren Bühnen chauffiert zu werden, wofür man extra noch ein paar störende Häuschen abgebrochen hat, doch diese hemmungslosen Zeiten sind zum Glück bald vorbei oder hatten hier eben nie begonnen. Selbst im Idyll haben die Musiktage sich mit der Vielfalt drängender Fragen zu beschäftigen, nicht nur rund um Emmissionen, Energieverbrauch und Nachhaltigkeiten, sondern natürlich mit dem ganzen bunten Strauss von berechtigten Zweifeln des «Weiter so». Hier haben sie zunehmend einen Spagat zu bewältigen, zwischen dem Postulat des Unpolitischen, des parteipolitisch Inklusiven und Fluiden, und dem tatsächlichen Spektrum an Positionierungen, die progressiv sein müssen, um sich noch rechtfertigen zu können. In Arbeit sind, wie zu lesen ist, neue Wege der Programmierung zur Reduzierung von Flügen und Transportaufwendungen sowie die heute bereits obligatorischen Gewichtungen des Fleischverbrauchs, der Bauten, Dekorationen und Verbrauchsmaterialien. All das ist sehr viel zusätzliche Arbeit, die am Ende nicht als Festivalleistung zählt, sondern das neue «Normale» darstellen muss. Dazu kommen die vielen tagesaktuellen Fragen, deren Beantwortung im Fall des Gelingens kaum jemand mitbekommen wird: Wie verhält sich die Programmleitung, wenn einzelne KünstlerInnen sich aus welt- und tagespolitischen Gründen kompliziert zueinander verhalten? Ausserhalb der immer noch etwas neutraleren Schweiz ist dies heuer ein gewaltiges Thema und macht die Dramaturgie zahlreicher Veranstaltungen zu einem Abenteuer. Und dann sind da natürlich noch all die Rückstände vergangener Jahrzehnte aufzuholen, die Ungleichheiten und Missstände, die sich im bunten Bühnenlicht nur so schwer ausmachen liessen und vielen der Kunstgeniessenden immer noch nicht präsent genug sind. All das gilt es mitzuprogrammieren, und mit den Jahren gelingt es auch in Stans.

Musik ist das Leitmedium einer Ästhetik im Wandel, weil sie uns alle berührt, auf vielfältigste Art und Weise. Zudem steckt sie in sämtlichen anderen Sparten mit drin oder beeinflusst sie, ob die bildenden Künste, den Film, das Fernsehen, den Rundfunk, die Literatur und alle Bühnensparten. Dass sie uns – ob den Erdenkenden, den Ausführenden oder den Hörenden – so ungemein viel Spass und Freude bereitet, lenkt davon ab, dass es auch in ihren Geschäften keine Sicherheiten mehr gibt – und vielleicht noch nie gab, je nachdem, welchen Standpunkt man denn einnimmt.

Hier in Nidwalden ist, wie auf dem Kulturforum am Dienstag abend zu hören war, die Förderung der Laien- wie der professionellen Künste trotz zeittypischer Schwierigkeiten von schwindendem Engagement von Sponsoren und Mäzenen noch stabil und zugleich in einem guten Wandel zu einem fortgesetzten Austausch zwischen den Beteiligten, um den zeichen der zeit zu folgen. Doch Fördergeld ist ja längst nicht alles. In anders organisierten Kantonen, Regionen und Ländern offenbaren sich Probleme kultureller Einschränkung, die wir mit einer immer noch überreichen Grundsituation unseres Lebens kaum übereinbekommen können. In Deutschland ist eine spezielle Kettenreaktion als logische Folge von Ereignissen und neuen Bedingungen längst wirksam: Die Unlust, das Leben als schlecht bezahlte Lehrkraft in völlig unterversorgten Strukturen zu verbringen, erzeugte inzwischen einen gravierenden Mangel von Musiklehrerinnen, vor allem in den Grundschulen, also in den ersten vier Schuljahren, in denen sich doch so manche Neigungen entscheiden und späteren Entschlussfassungen grundieren. Der Unterrichtsmangel, während der Pandemie nicht korrigiert und durch die desolaten technischen Verhältnisse mangelnder Digitalisierung und Ausstattung noch erheblich verstärkt, setzt sich bereits in den Musikschulen und Jugendorchestern fort und erreicht schon bald die Hochschulen, Profiensembles und natürlich auch das Publikum. Jenes ist zugleich auf einem ganz anderen Dampfer, tobt sich in Begeisterungsstürmen auf Grossevents aus und lebt ansonsten im ständigen Zuckerschock des Spotifying, als Momentbeschleunigung, ekstatischer Quicky und Sekunden-Einhorn auf die Insta-Story – oh my god –, auf Tiktok und in der Playlistgrundversorgung sowieso auf den willenlosen, durchkaramellisierten Streams.

Und wo die Bezahlung der Kunstschaffenden und -ausübenden sowieso kaum noch eine Rolle mehr spielt, merkt man umso weniger, dass sich der Gender-Pay-Gap, dessen Kenntnis doch eigentlich – nach all den Jahrzehnten – als bekannt vorausgesetzt werden dürfte, immer noch nicht geschlossen hat. Und dass die Frauen in der beruflichen Ausübung der Künste einen weiterhin viel schwereren Stand haben und – von den Problematiken der Übergriffigkeit und sexuellen Gewalt mal ganz abgesehen – erst ganz langsame Bewegungen in Gang kommen, um diese strukturelle Lücke zu schliessen. Ob es gelingen wird oder zumindest zu kleiner Veränderung ausreicht, lässt sich nicht vorhersagen. Aber jede Bemühung zählt. Dazu gehört in der Schweiz die Organisation «Helvetia Rockt», die in vielfältiger Weise Zusatzausbildungen, Workshops und Motivationen schafft, knallharte Kenntnisse des Musikgeschäfts an Frauen jeden Alters vermittelt oder auch mit sehr niederschwelligen Angeboten dort zu arbeiten beginnt, wo es möglich ist: Auf den Stanser Musiktagen mit einem Workshop «Songwriting», gegeben von der Musikerin und Produzentin Anna Murphy, die ich nun noch kurz als Spezialgast aufs Podium bitten möchte.

Freitag, 12. April

Liebe Frühverkaterte und Spätheimkehrenswillige, geschätzte Dis- und HarmonikerInnen, hochverehrte Terzinen, Quinten und Quadrupeli,

es kann nicht geleugnet werden; wir stecken mittendrin. Der dritte Tag und Abend hat Fahrt aufgenommen, und spätestens jetzt ist es Zeit, sich kaum mehr an gestern erinnern zu können, an die Begegnungen, Dynamiken und Entgleisungen. Kurz vor dem Hot Dog war die Welt noch in Ordnung, dann nahm das Schicksal seinen Lauf … Die Apres-Ski-Behauptung in der Zivilschutzanlage war eine relativ vernachlässigte Angelegenheit, mit anderen Worten: die Zivilen waren vor den Schlagern dank Abwesenheit gut geschützt, wohingegen die Karaokebar des DZB im späteren Verlauf durchaus die lexikalischen Merkmale der Ekstase hervorbrachte: ex-histastai, «aus sich heraustreten, ausser sich sein», auch »in Verzückung geraten» in Trance-ähnlichen Transzendenzerfahrungen. Vor der Tür währenddessen vertiefte Gespräche über politische Ereignisse und Kulturmanagementfragen im Ausland, also ab Luzern, und die Erkenntnis, dass Betonungen so wichtig sind, zum Beispiel beim UmFAHREN oder eben beim UMfahren von Hinweisschildern durch ungeduldige Autofahrende. Bezogen auf die SMT heisst dies, kurz gesagt und pünktlich zum Donnerstagabend: «Ab jetzt das Übliche!» –Oder eben nicht ganz: Die Pfarrkirche ist ausverkauft; das hat es schon eine Ewigkeit lang nicht mehr gegeben. Sourdurent braucht hingegen noch ein wenig Engagement, und LEILA im Kollegisaal ebenso. Sie alle spielen gleichwohl um ihr Leben, so wie sämtliche KünstlerInnen dieser Welt, deren Passion auf der Nichtevaluierbarkeit, dem Unzählbaren und kaum Abzurechnenden beruht. Das sind die Themen derer, die dann nachher am Werk sind und Listen füllen, Defizite konstatieren und die Lücken mit Gelassenheit zu füllen haben. Das sind so verschiedene Welten wie der Dorfkern zum Beispiel und die Verklotzung der Matten, hier die musikalische Grundauffassung des Lebens mit Harmonien, Leitern und Stiegen, Winkeln und Löchern, verlierbaren Schlüsseln, bunten Mauern in Dur und in Moll, mit den Notationen des Lebens, und dort dagegen der Zweck, die Ersparnis und Übersicht, die Gradlinigkeit und mentale Minergie, die im Musikalischen am ehesten noch in den Märschen zu finden ist. Solche Märschen begegnen wir in unseren Hörräumen ja leider wieder zunehmend, dem Marsch aufs Weisse Haus und auf Charkiv, jenem nach Bern, Berlin, Wien, um es «denen» mal so richtig zu zeigen, und auch den kleinen Märschen, die tagtäglich durch unser eigenes Gemüt robotten, mit der Sehnsucht nach Übersicht und kurzem Weg zum Ziel, dabei sind es doch gerade die Umwege, Krümmungen und Tüdeleien, denen wir den meisten Spass im Leben verdanken. Zum Beispiel, wenn das ganze Dorf zu swingen beginnt, zu schleifen und durchzudrehen, zu synkopieren und aus dem Tritt zu geraten wie heute abend. Das kann kein Konzept planen und beschreiben. Die Stanser Musiktage waren immer schon gender-, familien- und alkoholfluid, divers, transfloral und multiphonisch, unformulierbar, doch auf und in unseren Leibern klar ablesbare Spuren hinterlassend. Dieser Impact ist durch kein Geld dieser Welt zu kaufen und zu bezahlen. Dennoch wäre es ein verheerender Trugschluss, deshalb immer weniger dafür geben zu wollen. Erhalten Sie sich das Unbezahlbare, das grosse Spiel um alles. (Womit wir eigentlich wieder bei den Lottogeldern wären, aber das lassen wir jetzt mal beiseite.)

Nicht übersehen werden sollte ein grosses Thema, dem sich auch die Musiktage zu stellen haben. Sie tun dies tatsächlich, auch wenn ich selber es nicht nachprüfen kann, weil es eben jetzt gerade läuft, mit der Vortragsreihe «Der andere Blick» zum Postkolonialismus auch hier im Dorf, wobei natürlich stets gefragt werden muss, was das «Post» denn da macht, wo wir doch immer noch gefüllt und bekleidet sind mit Gütern, die aus dem Leiden anderer Menschen gebaut und erwirtschaftet wurden. Wie Marc Unternährer im Interview schon sagte: Es wird mehr offene Fragen geben als Antworten. Doch schon der Versuch, sich der Thematik zu nähern, ist ja ein Anstoss, etwas an sich zu ändern. All jene, welche die Musiktage lediglich als Kilbi betrachten, wird das kaum interessieren. Ein bisschen schlendern und die Kulturwelt inhalieren ohne die Mühe, auf ein Konzert gehen zu müssen, auch das ist gut und zuweilen pure Vibration; es soll hier in keinem Halbton geschmälert sein. Was zählt, ist das Begegnen und der Austausch. Mein aufgesammeltes Zitat des Tages: «Nick Cave hat ja auch schon einige Schicksalsschläge hinter sich.» «Echt? Das muss ich gleich mal googeln! ‹Nick Cave – Schicksalsschläge …› Ah- oha, ja, einige!»

Was ist gestern sonst noch so passiert? Ein zwangsläufig liebenswertes Merkmal der Musiktage ist ja, das Meiste zu verpassen. Aber ich hab’s ins Kollegi geschafft. Dtobte der Sturm einer psychedelische Techno-Oper; BCUC waren zu Gast und legten ohne Umschweife los: Mit sehr übersichtlichem, rein rhythmischem Instrumentarium, ohne Schaumbremse gespielt, jagten sie virtuos durchproduzierte Langstücke in die Leiber der tanzenden Menge, die für eine echte Saalexplosion leider nicht ganz ausreichte. Die Texte waren appelativ, energetisch aufgeladen und mit maximalem Nachdruck gesendet, ohne angriffig zu sein; sie bezogen das Auditorium ein und zogen es auf ihre Seite eines fiktiven Gemeinsamen. Doch was sangen sie da eigentlich? Wo kommen sie her? Was ist der Grund über das Vergnügen hinaus? Hefte raus; Klassenarbeit!

Während die Schweiz viersprachig und vieldialektisch bestens ausgebaut ist und doch schnell mal an die Grenzen stösst, hat Südafrika seit dem Ende der Apartheid elf amtliche Landessprachen; mitsamt der Gebärdensprache sogar zwölf. Dazu kommen diverse Binnensprachen, und statt von Dialekten muss man hier von Soziolekten sprechen, denn das überreiche riesige Land wurde seit Jahrhunderten geteilt und geplündert, verwaltet, verschoben und zersplittert, weshalb die autochtonen Anteile in den Pop- und Subkulturen kaum noch auszumachen sind. In den sämtliche verschiedenen Landesteile verwüstenden inneren Explosionen des 20. Jahrhunderts wurden die meisten volkstümlichen Überlieferungen zu Kunstformen gewandelt, die – ob sie wollen oder nicht – kaum unpolitisch sein können. BCUC – mit vollem Namen «Bantu Continua Uhuru Consciousness» – entstanden in Soweto, der Township-Metropole im Norden Johannisburgs, genauer in Orlando, denn Soweto umfasst ja mehr als 140 Mal die Stanser Gesamtbevölkerung und besteht aus diversesten Lebenswelten. Orlando entstand durch Massnahmen der Apartheit-Regierung, fortgesetzt durch Industriekonzerne des globalen Nordens, durch gewaltsame Zwangsumsiedlungen aus rassistischen Motivationen und führte zu einem enorm gewalthaltigen Geflecht von Squattercamps und Hostels für Landlose und Wanderarbeiter, die ungeachtet ihrer Herkünfte im Falle ihrer schwarzen Haut seit 1962 offiziell «Bantu» zu nennen waren. In derselben Zeit entstand auch die Graswurzelbewegung «Black Conscious Movement», die Bewegung des schwarzen Selbstbewusstseins, mit über 70 Gruppen, die gegen alle Gesetze kämpften, welche die Schwarzen zu «Fremden im eigenen Land» machten. Das BCM verstand sich selbst inmitten von rassistischem Regierungsterror und alltäglichen Strassenkriegen als strikt gewaltfrei. «Uhuru» schliesslich bedeutet in Suaheli und Zulu schlicht «Freiheit», womit wir nun den Namen der Formation BCUC ungefähr entschlüsselt haben. Musikalisch entstand aus der subkulturellen Strecke vom Township Jazz, Afrobeat, Hiphop, Disco, Punk und Techno eine spezielle energetische Ausgangslage, und das Sprachliche musste uns fremd bleiben; hier konnten wir nur vertrauen. Neben den Botschaften in vermutlich Zulu, Xhosa und Tootsitaal gabs englisch geslangte spirituelle Zukunftsbeschwörungen, unbezähmbar, unbestechlich, ungleich ernster als hiesiger Konsumhedonismus und inhaltsreicher als jede weltflüchtende Trance. Das leitende südafrikanische Musikmagazin heisst nicht «Loop» oder «Tracks» wie hierzulande, sondern «Rage», und die Devise dieser Musik könnte «Vergeltung durch Versöhnung» lauten. Der Saal im Kollegi tanzte gern nach dieser Pfeife, und möglicherweise haben wir ja auch ein bisschen von dem verstanden, worum es dabei geht. Dass das Leben ausserhalb unserer Komfortzonen hart, rasend und schlagend ist, war vorgestern in einer Nachricht zu lesen, darüber, dass in Chicago ein farbiger Autofahrer während 41 Sekunden durch 96 Schüsse letal verwarnt wurde, weil er nicht angeschnallt war. Nach wie vor ist dies der Beat, der Tremor unserer Zeit.

Wie sehr dann doch alles an der Sprache hängt, an diesem Hyperraum der Codierungen unseres Verständigens, selbst wenn uns die Wörter und Sätze einmal unverständlich bleiben oder sie in ihre Einzelteile zerfallen, sich zu Mustern und Klängen formieren und abstrakt agieren wie informelle Malerei oder eine Galaxie, ein Sternen- und Weltengemenge inmitten der hypothetischen Unendlichkeit – oder auch wie ein schwarzes Loch, in das in einem unerwarteten Moment dann alles jemals überhaupt Geäusserte stürzt. Angesichts dieser Fragen wird einem doch schwindelig, fast wie damals, als in jeder und jedem von uns alles begann. Einmal, so heisst es, konnten alle Kinder alle Sprachen sprechen. Damals war es Nacht. – Jetzt ist es eine Existenz lang Tag und wir müssen durchs Unverständliche hindurch. Dabei helfen uns die Stanser Musiktage ungemein!

Unser heutiger Spezialgast ist der Lyrythmiker und Lautpoet Mitch Heinrich aus Wuppertal, der auch schon beim Ersten Tier 1997 in der Melachere dabei war. Wir singen ein Lied von 1957, von Maurice Lemaitre, den «Lettre Rock».

Stanser Wortmusik, Samstag, 13. April

Hochgeschätzte Damen und Herren aller Notensysteme, liebe Stimmgäbelchen und Standpauken, geneigte Einheimische und Ausserirdische,

Stans ist on fire; bereits seit dem frühen Nachmittag tobt der grosse Höhepunkt der Musiktage auf allen Kanälen. Es kommt zum Äussersten: Konzertante Früherziehung, nachhaltiges Ohrensausen, bewusstseinserweiternde Erkundungen zur eigenen Geschichte und Gegenwart: Besser als in Roland Heinis gigantischen Spiralen des kollektiven Augenlichts auf dem Dorfplatz kann man wohl kaum darstellen, was uns widerfährt: Das schwer zu Umfassende kreiselt auf der Stelle und doch im steten Vorwärtsgang, nicht um uns selbst, sondern in die Welt hinaus. Stans sendet Signale ins All, und sollten irgendwelche uns nicht vorstellbare Wesen aus Umlaufbahnen heraus mit ihren Fernrohren das Zentrum dieses Festivals fokussieren, so werden sie sicher selbst ins Taumeln geraten in ihren Untertassen und von jeder Eroberung Abstand nehmen, denn gegen diese geballte Wucht gemeinsamer Freude, Neugier und Abenteuerlust sollte man lieber keine Macht zu ergreifen versuchen.

Die menschlichen Gesellschaften ausserhalb dieser aus der Welt gestanzten Erholungsanstalt sind in einem vorwiegend bedauerlichen Zustand. Wenn man zwischendurch Nachrichten schaut, lassen sich die verschiedenen Bilder kaum passend übereinanderschieben. Wie verschwindend wenig einem aussenherum doch richtig erscheint, und wie schwer es zugleich fällt, hier im Auge des Festivals und Dorfes überhaupt nur ein kleinstes Falsches auszumachen … Wir alle wissen, dass die Binnenwelt der Künste die erfundene ist, eine Kulissenschieberei, eine Commedia dell'arte, eine Zauberei auf Zeit und ein Mittfrühlingsnachtstraum, und wir alle schätzen diesen Zustand als das so nötige Gegengewicht zu dem, was ringsumher passiert, wo Menschen sich nicht lieben und schätzen können und darauf beharren, dass nur ihre Geschichte die einzige ist, die zählt. Die Kunst ist die Apotheke, in der wir uns gegen totalitäre Infekte wappnen können und uns zumindest für ein paar Stunden lang einig sind, dass der Glaube ans Gute noch immer mehr ist als ein industrielles Fastfoodprodukt. Kunst und Kultur geben uns die Kraft dafür, dem Druck des Katastrophischen zu widerstehen, und die Musiktage zeigen dabei konsequent den Grundsatz der kantonalen Kulturförderung, keinen künstlichen Graben zwischen der Laienkultur und der professionell gelebten Berufen aufzureissen. So etwas kann man in den Metropolen machen, doch hier im Biotop, wo die Kinder zwischen den Weltstars herumkobolzen, muss es ineinandergreifen, um stets kleine Antwortversuche vorzuhalten auf die leidige Frage, was man selbst denn ändern und vielleicht sogar besser machen könnte in diesem Spiel. – Manche mögen es vielleicht kaum mehr hören und sogar abstreiten, doch auch ohne postulierte «Message» sind die Musiktage mit ihrem Pluralismus, ihrer Diversität und Inklusivität, ihrem Spiel mit dem Unerhörten eine ständige Vorwärtsbewegung und alles andere als unpolitisch. Sie sind eben immer so politisch, wie die Lebensumstände der Beteiligten es sind. Und jene aus aller Welt können von Kriegen, Vertreibungen, Verboten und Gewalt so einige Lieder singen.

Die Ungeheuer toben jedoch nicht nur im Anderswo; sie fressen sich auch leise durch die Mitte hiesiger Ereignisse und kriechen manchmal durch die Hintertür. Wenn eine Postwurfsendung in Kriens die Stadtviehschau als vorrangig zu fördernde Kulturleistung gegen Veranstaltungen mit internationalen Inhalten auszuspielen versucht und ein Drittel der Wählerschaft dieses geistige Reduit als dominierend wünscht, dann kann man über die Tendenzen der Abgrenzung von Heimatkultur und der forcierten Innerlichkeit nicht mehr so locker hinweglächeln. Und dass sich in Innenschweizer Kantonen die Netzwerke der europäischen Rechtspopulisten formieren, um nach den Wahlen dieses Jahres vielleicht bald schon Kulturpolitik mitzugestalten, gemahnt in aller hier erlebten Offenheit daran, dass diese möglicherweise endlich ist. Reichsbürger, Identitäre, die Höckes, Weidels und Maassens, sogar Trumpisten und Putinisten lassen sich gleich hier, auf der anderen Seeseite, ihre giftigen Suppen würzen. Und so wird auch ein so unpolitisches Festival eben gewichtig, als Gegengewicht, als Gegengift. Die hier einmal erlebte menschliche Kraft der Künste lässt sich nicht mehr aus unseren Leben löschen.

Es ist die letzte Wortmusik für dieses Jahr und wir hätten eigentlich noch so viele Pendenzen. Die Zeit reicht gar nicht für alles. Waren Sie schon in der Doppelausstellung von Roland Heini? Die Galerie am Dorfplatz wird gleich ausnahmsweise noch geöffnet haben. Der Titel «Und sie dreht sich doch» ist nun keine bahnbrechend neue Erkenntnis, jedoch gelingt es dem Bildhauer mit seiner Leidenschaft für die Mechaniken vom Raum und Zeit, das vermeintlich Bekannte mit Spiegelungen und Wiedergaben auf überraschende Weise darzustellen. Dieses Beziehungsgeflecht von Brücken und Traversen, Riegeln und Streben, aus denen Körperlichkeiten entstehen, passt bestens zu den Musiktagen. Das Ganze in gross und etwas anders proportioniert gibts im zweiten Teil, draussen im Wnkelriedhaus. Auf dem Weg dorthin gibt es noch ein Gratiskonzert von drei Pfauenmännli, die sich, wenn man sie mitten in ihrem Schrei streng anschaut, so anhören wie die schon halb mit Eiswasser gefüllten Signalhörner der untergehenden Titanic.

Was gibt es noch zu berichten vom Freitag Abend, der sich anfühlte, wie auf verschiedenen Planeten durchlebt? LEILA sang im Kollegi Zeilen der Zeit: «’cause I don’t wanna die alone», «we should never fall in love», «I love the game but I hate to play» … Kräftige Wiegenlieder für den Nachtzug Richtung Nirvana. Kontrastreich und perfekt durchproduziert mithilfe dieser heutigen Veranstaltungstechnik, deren blinkende Inseln so aussehen wie eine Nasa-Zentrale für die Landung auf der lustigen Seite des Mondes. Ich habe die ganze Zeit fasziniert dem durchchoreografierten Einsatz der Frau am Lichtpult zugeschaut, die uns ins Bühnengewitter versinken liess. – Mit eher vertrauten Lichtörgeli und einer prötternden kleinen Nebelmaschine kam später in der Zivilschutzanlage Michael Richter aus, der dienstälteste Discjockey der Schweiz, der seine Ansagen seit Jahrzehnten im Schlaf beherrscht, «Life is life, jaja-ja, jaja», Herzschrittmacher on dope, und auch das muss seinen Platz bei den Musiktagen behalten. Würden wir alles stets nur nach elaborierter Kunstleistung betrachten, wäre dies genau so absurd wie die Beschwerde, welche die Veranstalter über das Konzert des Altmeisters Eric Mingus bekamen, weil man bei ihm eben eine anscheinend erhoffte exaltierte Leistungsschau vermisste. Auch das kann es geben an diesen Musiktagen: dass Leute nur das zu kaufen versuchen, was sie sich bereits so vorgestellt haben. Die Kunst ist aber kein Supermarkt, sondern eher vielleicht ein Treibhaus, in dem man selber mitwachsen muss. So ging es mir gestern noch im Beinhaus, beim mitreissenden Kellerkonzert von Corps pur & Jun Knik vor nur 25 Nasen – und natürlich etwa 320 Nichtmehrnasen … Wie glücklich müssen jene sein, die in solch fulminanten Störungen der Totenruhe zu liegen kamen. Der kleine Raum, nur wenige Gebeine lang, begann sich in den Schwingungen der Maschinen und des Saxophons zu öffnen und riss das ganze Panorama einer urtümlichen Landschaft auf, in der eine unheimliche, kaum je gesehene Botanik spross, Orchideen mit Blüten in der Form von Mastodonen, Blätter und kriechende Rankwerke wie gigantische Echsen, die sich wanden und hervorschnellten, um Flugzeuge aus den Lüften schnappen, ein Zeitsprung aus dem Jetzt heraus ins unbekannte Kommende, wenn die Welt der Menschen mit ihren Träumen vom guten Leben längst verweht sein wird, und fast schien es, als hätten die Sandstürme während des Konzerts das Beinhaus, den Dorfplatz, das ganze Stans und das Tal überblasen und wir sässen nun da unten, für immer, um zu zerfallen und bald so auszusehen wie jene dort hinten an der Wand. Ein so aufregendes wie tröstliches Erlebnis, auch wenn wir am Ende erwachten und aus den Schlingpflanzen zu den Bierbuden zurücktorkelten.

Dort traf ich dann noch Laetizia und Joel aus dem Organisationsteam, die beide ihre Arbeit an den Musiktagen einstellen werden, weil eben anderes ins Leben kommt. Wir unterhielten uns über das, was sie spontan am meisten nervt in diesem Jahr. Joel berichtete, dass die Schaumstoffmatratzen im Gesellenhaus von Jahr zu Jahr dünner würden; er sei nun 30 und es fühle sich an, als läge man direkt auf dem Holz. Naja, ob das an den Matratzen liegt? – Laetizia antwortete etwas dramaturgischer: Sie fragte sich, warum manche Menschen partout nicht lernen wollen, sich angemessener auszudrücken, wenn sie zum Beispiel ins Büro kommen und fragen, ob es diesmal wieder was mit Trommeln aus Afrika gäbe. «Wissen Sie, ich mag ja Afrikanerinnen sehr …» – Da sind wir schon wieder mitten in einem Thema, das uns alle angeht, die Sprache als Tapete der Räume unseres Handelns; von allzu Vielen immer noch und immer wieder mit Ignoranz bedacht. Da passt ganz gut das Zitat des Tages, diesmal aufgesammelt von Programmleiter Marc Unternährer: «Exgüsi, haben Sie auch klassische Konzerte?»

So schliessen wir endlich den Bogen der Wortmusik mit der Feststellung, dass die Musiktage viel tiefergehende Arbeit zu leisten versuchen, als es im Programmheft ersichtlich ist. Weit über das Spektakel hinaus füttern sie den Mut und die Hoffnung, dass sich manche Dinge auch zum Guten weiterbewegen. Und das ist doch das Einzige, was uns über den steigenden Wassern halten wird.

Nun huschen Sie schnell weiter in den Klostersaal, zum seltenen Solokonzert mit Hans-Peter Pfammatter, und im Anschluss ins Kollegi, zur Magical Mystery Tour in den popkulturellen anatolischen Kosmos, mit den fabelhaften Satellites aus Tel Aviv. Und dann schon wieder abbe ins Beinhaus, zum mikrotonalen Experimentalismus mit Jules Reidy. Eine solche Reise in die Nacht kann man wirklich nur hier in Stans erleben und in diesem Lebensjahr nur noch heute abend. Ein Gläsli Wein mit Freunden gibt es auch am Montag wieder, doch diese Achterbahn des Gemütes nur hier und jetzt. Und wie es uns und den Künstlerinnen und Künstlern im nächsten April gehen wird, das steht noch in den Sternen. Was für ein Glück für alle hier in Stans, ein Teil dieser Geschichte zu sein.

Lieder vom Ende gibt es wie Sand am Meer, vermutlich seitdem es Lieder gibt. Lieder aufs Ende des Paläolothikum, Songs von der Ermüdung des Frühmittelalters, Schlager vom Zurneigegehen der handgeschriebenen Bücher, Hymnen aufs Ende des Krieges und auf jenes des Friedens, und erst recht Stücke vom Ende der Popkultur. Eines davon haben wir herausgepickt, eine Hymne damals von der Band «Plummet Airlines», im Jahr 1969, als eben – wie wir heute wissen – das Zeitalter des Rock’n’Roll das langbehaarte, leergeschüttelte Haupt zur Ruhe zu betten begann. Am elektrischen Eierschneider wieder dabei: Christov Rolla!

[Lied «Good bye, Rock’n’roll«]

 

 

Stanser Wortmusik, Sonntag, 14. April

Es rumpelt und donnert im Kern, doch nur dort, wo es nötig ist. Niemand schreit oder spielt sich auf; alle tun, was sie wissen und lassen die Stanserinnen sanft den Sonntag ausklappen. Das Dorf ist voller Behelmter; die Bautrupps sind da. Nachts um zwei waren die Bars und Garküchen zusammengeräumt und die restlichen Besucher in die statischen Lokalitäten verschoben, und mit dem Hahnenschrei kamen die Monteurinnen und Packer und begannen das Festivaldorf auseinanderzuschrauben: Überall wird zerlegt, gefaltet, sortiert und gebeigt, gestapelt und transloziert, bis zum Glockenläuten um Zehn nurmehr ein paar Skelette in der Gegend stehen, das Fest ein Beinhaus, ein Gedenken. Die Musikerinnen aus Tel Aviv schnüren zum Parkplatz; ihre Leben wurden von dreihundert Drohnen angeflogen, während sie im Kollegi auf der Bühne standen. Der Luftraum ist gesperrt; vielleicht müssen sie ja erst noch zu einem anderen Fest, in der Warteschleife zwischen Kunst und Leben. Währenddessen suche ich in den zur Seite geräumten Kulissen einen Tisch, den das Museum der Wortmusik überlassen hatte, doch er ist – wie es typisch wäre für das wohlsortierte Dorf – sicherlich längst wieder dort, wo er hingehört. So, wie das Publikum auch, noch in den zerwühlten Betten dampfend oder noch leicht rhythmisiert an den Kaffeemaschinen herumfingernd oder bereits aufgeweckt und sonntagshungrig beim Frühkonzert von TREI in der Ermitage Beckenried: drei Frauen für ein Halleluja, gegen die Ermächtigung der kleineren Hälfte des Menschengeschlechts über die grössere. Das Thema am Rand und in der Mitte, die Musiktage bereits demontiert und doch noch im vollen Gang. Musik ist ein Kreislauf, nur manchmal zum Luftholen unterbrochen, zum Denken, Trinken, Sterben und Gebären. Die Schlussglocken dieser Zusammenkunft werden erst am frühen Abend geläutet, in der Gnadenkapelle Niederrickenbach, mit zwei Palästinenserinnen aus einer geteilten, unteilbaren Stadt, über der heute Nacht Geschosse detonierten. Die Musik hält stand. – Morgen beginnt ein neues Jahr; die 29. Musiktage stehen uns bevor.