SMT 2020 - Der Samstag

Was wäre, wenn? Heute: Die Tuba als Sonderfall in der westeuropäischen Krisenliteratur.


Bildserie von Emanuel Wallimann

Die Tuba als Sonderfall in der westeuropäischen Krisenliteratur

Was für ein zauberhafter Samstagvormittag: Das ganze Dorf vibrierte vor geselliger Gelassenheit, während sich nach und nach fast alle Bewohner um die Stanser Mitte herum einfanden, um Rüebli zu posten, Gerüchte zu tauschen oder die letzte Woche auf dem Frühlingsmarkt erstandenen neuesten Krawatten aus Pernambuco zu begutachten. Die Beizen hatten die Stühle draussen; heute Mittag sollte es zwar ein wenig tröpfeln, aber die meteorologische Situation war im Vergleich zu den Wetterlagen früherer Musiktage fast schon als langanhaltende Dürre zu bezeichnen. Auf den Fensterbänken knackten die Knospen der Sichtraumbepflanzung, und sogar von den einst aus Luzern eingeschleppten tiefblutroten Hängegeranien der alten Frau Wagner von der Brüggligasse hat hier ein letzter Bestand überlebt. Kaum zu fassen war das gesamte Idyll, und heute waren ja auch noch die Musikanten aus aller Welt dabei. Überall zwitscherte und trömmelte es an den Tischen und Bänken, Grooves, Riffs und Hooklines werden getauscht und gehandelt, quer über die Genres hinweg. Fortgeblasen war das eingedunkelte Diskutieren der letzten langen Nacht, über die Zukunft, die Geltung – oder Relevanz, wie man heute sagt –, über Systeme, Belohnungen und das lebenslange Dienen der Hofnarren und Possenreisser, auch über diese ewigen Nörgeleien der ganzen Künstlerbrut rund um das liebe Geld. Kurzentschlossen war ein neuer Hashtag ins All geschossen worden, der heute vormittags bereits auf dem Weg um den Erdball war: #getthefuckrich!

Ich hockte mich zuerst einmal vor den Engel, den ich von innen nicht so mag wie von aussen, was mir bei Engeln aber generell so geht. Dort sassen schon Sabine Graf, Martin von Matt und Marlène Wirthner und diskutierten aufgeregt über die Literatur als Arbeit am Zweifel, über Hoffnung und anderes Gemüse und über das Buch als Bücherständer. Natürlich auch – ja, ich weiss, es geht hier um die Musiktage, aber was wären die ganzen Komponisten und Interpreten denn schon, wenn sie nicht mal ihre Namen schreiben könnten? – natürlich auch wieder um diese ewig vor sich hin kreiselnde sogenannte Innerschweizer Literatur. Und die Nennung des Hier im Überall. Sabine zog ein schmales, marmorpapierbezogenes Büchlein aus der Manteltasche, ihren neuesten Fund. Es war kleiner Idyllenband Heinrich Eduard Jacobs von 1918, in dem ein fast überreifer Spätexpressionismus auf altphilologische Hochdramatik prallt und in dem es tatsächlich einmal nicht um die Rigi oder den Pilatus geht, sondern um den Bürgenstock, den Hausberg der Stanser Musiktage, von der Rigi-Kulm aus betrachtet. Ihre fast atemlose Stimme zitterte ein wenig, als sie zu lesen anhub: „Mächtiger Berg, woher nehme ich Kühnheit, leicht mit Worten Dich anzureden wie die Kleeblume an meinem Schuh? Stünde ich nicht noch erhöhter als Du – stumme Woge aus Tanne und Stein – böte ich Dir kein Zwiegespräch an. Aber der Berggipfel, der mich trägt, belächelt Dein tiefer geducktes Haupt, und grosse, Dich anstrebende Dampfer erscheinen wie kleine Wasserspinnen, die einen schmalen Faltenkreis werfend, sich abhasten, ohne vorwärts zu kommen … Tier, Dein Name ist Bürgenstock! […] Ein Kunstreitersprung, und ich sässe rittlings auf Deinem Rücken! Lieber, ich möchte Dich spornen können, dass Du durch den aufschäumenden See mich in die Stadt Luzern hintrügest, mit tangumwundener Flosse landend, breitbrüstig die Uferhäuschen hinlegend.“

Sie wollte gerade tief einatmen und zugleich aufseufzen, da trat Marc Unternährer, der im Vorübergehen gelauscht hatte, an den Tisch: „Das klingt gut, das kann ich dir spielen!“ Und schon legte er los, denn Tubisten (oder sagt man Tubaniker oder Tubanauten?) haben ja eigentlich immer ihr Instrument spielbereit, wo sie auch gehen, stehen oder liegen. Er versetzte nun also mit seiner nachempfundenen Bergesbeschreibung die Umgebungsluft derart gefühlvoll in so wundersame wie nachdrückliche Schwingung, dass zuerst die Gedeckdeckchen von den Tischen flatterten, dann sogar noch im Gasthaus „Tell“ einige historische Vorfenster barsten und letztlich der ganze Dorfplatz nahezu leergefegt wurde. Lediglich der Infostand blieb stehen.

„Das Tier? Das Tier? Das war doch was …“ brummelte Rainer O. Hummel, sich verdutzt aufrappelnd, denn es hatte ihn geradewegs vom Stuhl gefegt. Und von der Dorfkirche aus tönte plötzlich eine markant sonore Stimme durch die ganze Mitte des Dorfes und hallte im Zickzack durch alle Gassen bis in die äusseren Strassen hinein: “Spread the wooord and not the Dingsbums!” – Es ist war Geist von Josè de Néve, der sich da mächtig und unerwartet zurückmeldete, uns daran erinnernd, dass auch die Stanser Musiktage ihre Gäste manchmal zu stilleren Festivals weiterziehen lassen müssen. Und das quirlige Stans versank für ein paar Sekunden in eine gänzlich ungeplante Stille, in absolutes Schweigen – sogar die Bienlein stellten kurz ihr Summen ein –, in ein akustisches Loch in der Welt, das uns gutzutun gedachte.

Nach dieser bezaubernden Szene, die sich auf diese Weise wirklich nur hier in Stans hatte abspielen können, und drei weiteren Fläschchen Migi Amber, das erst seit dem gestrigen „Tag des Bieres“ auf dem Markt und bereits heute früh komplett ausverkauft war (Ich hatte vorsorglich welche hinterm Blumenkasten deponiert), verlief die Tagesmitte heiter und genügsam. Rasch kehrten die Menschen wieder auf den Platz zurück; Corinne Odermatt bot leuchtfarbene und verwegen bestickte Gesichtsmasken an, um die sich bald schon die schnellfüssigen Stanser KunstsammlerInnen rissen, und vor der Gemüsetheke des ›Dorfplatz 9‹ verhandelten die Christophs Rosset und Risi über das letzte Pfund Erdäpfel. Kartoffeln waren seit dieser Woche das neue Öl und alle Welt beeilte sich, noch den hintersten Keller damit zu füllen, solange es welche gab. Jemand fragte, ob am Abend wirklich Jürgen Habermas im Beinhaus spräche, aber das stellte sich bald als Fake Truth heraus. Stattdessen hatte sich überraschend Philippe Bischof angekündigt, um zu kompensieren, dass die Prohelvetia zu dieser Festivalausgabe keinen Beitrag hatte leisten können. „Kultur fliesst uns davon“ soll das Thema seines Impulsvortrages lauten, mit der üblichen Referenz auf Heraklit: „Pánta chorei kaì oudèn ménei“, Alles fliesst, nichts bleibt bestehen. Oder, in der Version von Patti Smith: „Du pisst nicht zweimal in denselben Fluss.“

Das Programm? Ach so, das Programm! Ja, das wird heute natürlich wieder mal famos, so wie es sich für einen Musiktage-Samstag gehört. Der grosse, aufbrausende Orkan kurz vor dem Ende der Welt(musik). Zur Minute, also um 15 Uhr, startet ›De Ärdbeerschorsch und d’Znünbiband‹ im Chäslager mit einem zukunftssichernden Kinderkonzert, eine wunderbare Massnahme zur Kundensicherung hinsichtlich der 50. Stanser Musiktage. Gleich um Vier folgt dann der Volksapéro, an dem 600 HelferInnen und 6000 ZuschauerInnen die Tresore der Nidwaldner Kantonalbank komplett leersaufen werden. Dann die schon heiss erwartete Weidliband, selbstverständlich ebenfalls von den Moderatoren der Weidli-Stiftung angesagt, der Kunstrundgang, die Brönnimann-Performance, und schon muss ich wieder zur Winkelriedbar hochsausen, um Lügenmärchen zu erzählen, sofern das dann noch geht. Wie immer werde ich dort hängenbleiben und folglich die big shots des Abends versäumen: ›Fitzgerald & Rimini‹, ›Pocket Rockets‹ und ›L’Eclair‹, die Kummerbuben mit dem Apokalypse-Orchester (bestens auf den Samstag Abend platziert), und dann noch drei gewaltige Gigs mit kurzen Namen, die sich auch in hochprozentualen Zuständen noch aussprechen lassen: ›Oum‹, ›Söck‹ und ›Eko Nori‹. Der weitere Verlauf der Nacht wird uns wohl Jahre unseres Lebens kosten, was wir jedoch nie bereuen werden.