SMT 2020 - Der Donnerstag

Was wäre, wenn? Heute: Alles läuft rund – but the world goes eckig.


Bilderserie von Emanuel Wallimann

Alles läuft rund – but the world goes eckig

„Goood morning Staaaaaans!” – so schallte es wie an jedem frühen Festivalmorgen durch das ganze Dorf, aus den alten Trichterlautsprechern, die noch im gesamten Reduit an den Masten hängen und vor denen auch die stimmgewaltigsten Zentralschweizer Hähne bereits vor Generationen kapitulierten. In allen Häusern regte es sich nun mit gebotener Zaghaftigkeit unter den Federbetten: Zuerst einmal hatte man zu prüfen, ob noch alles dran war am Leib, zuoberst natürlich der Schädel, der schwere, in dem noch die Beats und Synkopen des vergangenen Abends durcheinanderpochten. Dann folgte der vorsichtige Blick zur Seite: Liegt da noch jemand und ist mir dieser Mensch in irgendeiner Weise bekannt? Die Handlungsszenarien zu allen möglichen Antworten würden hier den Rahmen sprengen, deshalb springen wir zur nachfolgenden Prüfung: Welche Kleidungsstücke trug ich zuletzt, passen sie mir halbwegs – und vor allem, wonach schmecken sie? Andere wird es bis zum nächsten nächtlichen Rundtausch nicht mehr geben und die Reserven sind verbraucht; schliesslich ist schon Donnerstag. Oder erst. Nein, schon.

Die verschobene Zeit spielt auch beim ersten Programmpunkt des Tages eine nicht unwesentliche Rolle: ›Midnight Revolution‹ heisst die Schülerband, die um 18 Uhr den reichhaltigen Künstlerreigen eröffnet. Gewagter Name für einen Gig vor dem Abendessen! Das Konzertformat „Next Generation“ ist natürlich famos und so ein Festivalauftritt hat schon manchem Nachwuchs den Weg zu revolutionären Auftritten zur tatsächlichen Geisterstunde geebnet. Und wer weiss schon, was für Wahrhaftigkeiten die Youngster zur wirklichen Mitternacht in die Welt senden?

An dieser Stelle verknüpfen sich jetzt, dramaturgisch so verzwickt wie geschickt, verschiedene Erzählstränge miteinander, ohne komplett nachvollziehbar zu werden. Live an der Rednerbühne der Winkelriedbar wäre dies unter Zuhilfenahme aller Gliedmassen vielleicht noch darstellbar gewesen; für den Brückenschlag in der hier vorliegenden flachen Einbahnkommunikation müsste ich dafür Zeichnungen anfertigen, was jedoch nicht vorgesehen ist. Zudem trat zur Nacht noch kurz das private und ganz reale Leben in das schreibende Welt-Erfinden hinein und es waren sprichwörtlich letzte Worte zu suchen, die mich kurz aus jeder kulturellen Lustigkeit warfen. Dies allerdings sei hier lediglich erwähnt und verwendet, um zwischendurch kurz klarzustellen, dass wir alle uns ja in einer nicht zu überschminkenden dramatischen Situation befinden, in deren Verhängnis die aus der Ferne geschriebenen Geisterspiele der SMT nur eine bizarre Lappalie darstellen. Doch so sorgfältig wir nun auch die gebenden und nehmenden Körperöffnungen vor der Welt zu verschliessen haben: Die Ohren und Augen bleiben eben offen, und die sind doch die essentiellsten Organe aller BesucherInnen der Stanser Musiktage. Deshalb also, allen bereits vorhandenen und noch kommenden Schrecken zu Trotze, schnell weiter im Text, nicht ohne den Gedanken, dass heute in einem Jahr die Stanser Musiktage 2021 tatsächlich stattgefunden haben und umso ekstatischer beendet sein werden. Hoffen wir das beste – und vor allem, dass wir alle, die gesamte Crew, sämtliche KünstlerInnen und ein lückenloses Publikum aus nah und fern dies miterleben werden.

Zu diesem darken Denken hat natürlich das SMT-Programm (dessen sorgfältige Lektüre Ihnen allen übrigens unter der Massgabe des „So tun als ob“ ans Herz gelegt werden soll) heute Abend um 20 Uhr das Passende parat: Zu ›Yet no Yokai‹ steht dort geschrieben: „Mit ihrem Konzert auf der Dorfplatzbühne werden sie das Publikum ins Jenseits befördern!“ – Nehmen Sie es so sportlich wie der Konzertpartner (ausgerechnet die Mobiliar), und lassen Sie sich diesen Auftritt im April nächsten Jahres keinesfalls entgehen. Falls der Schnitter zwischenzeitlich an Ihre Türe klopft, sagen Sie einfach: „Tut mir leid, ich bin schon der Musik versprochen! Hab bereits das Ticket gebucht.“

Jetzt aber schnellstens zurück zur erwähnten dramaturgischen Verknüpfung. (Es gibt wohl kaum Stümperhafteres, als eine solche – die ja stets im Verborgenen zu bleiben hat – anzukündigen und dann nicht einzuhalten.) Mitternacht also, die unnachahmliche Mischung aus Aufruhr, Müdigkeit und Weltverlorenheit: „Hells Bells“ dringt aus dem Lautsprecher, sofern man Radio 3fach hört. Die stabilste und beste lebensbejahende Gewohnheit der gesamten Rundfunkwelt, noch vor Sex’n’Drugs’n’Rocknroll. Und 3fach sendet auch an diesen imaginären SMT in einer Partnerschaft mit Menschen, die von der Stiftung Weidli betreut werden: Ansagen, Moderationen und redaktionelle Einwürfe von Akteuren, die im Alltag oftmals keine Stimme haben. Nun allerdings haben Sie eine echte Aufgabe für Ihre Vorstellungskraft, indem Sie diese inklusive Kulturleistung imaginieren müssen: Versuchen Sie es, offenherzig und barrierefrei, es wird eine Bereicherung des sozusagen normalen Lebens sein!

Sowieso sind wir in diesen Tagen fast pausenlos an alle neuerlichen Formen des guten alten Radios gebunden wie sonst kaum: Die ganze Welt ein Senden und Empfangen … Was ist wirklich, was war wann und wird wo sein? Die Philosophie des Radiophonen begleitet uns nicht erst ´seit der Erfindung der ersten dazu tauglichen Geräte, sondern schon sehr viel länger, was hier nochmal aus dem längst vergessenen Buch „15 Jahre Radio 3fach“ zitiert sein soll: Dort steht ein Abschnitt aus dem 4. Buch des Romans «Gargantua und Pantagruel» von François Rabelais aus dem Jahre 1552.

«‹Wir sind hier am Grenzsaum des Eismeers, über dem zum Anfang des letztvergangenen Winters eine schwere und grimmige Schlacht zwischen den Arimaspen und den Nephelibaten tobte. Damals gefroren in der Luft die Worte und Schreie der Männer und Frauen, das Geklirr der Waffen, das Aufeinanderkrachen der Harnische und Brustschilder, das Gewieher der Pferde und der ganze übrige Aufruhr des Kampfes. Nun aber, da der Winterfrost gebrochen ist und Lauigkeit und Milde der guten Jahreszeit einkehren, tauen sie auf und sind zu hören.›

Damit warf er uns mit vollen Händen gefrorene Wörter aufs Schiffsdeck; die sahen wie kandiert aus und spielten in vielerlei Farben. Wir sahen darunter rote Blutsakrawörter, Grünwörter, Blauwörter, Schwarz- und Goldwörter. Jedoch bald nachdem wir sie in den Händen erwärmt hatten, zergingen sie wie Schnee, woraufhin wir sie zwar ganz prächtig hörten, aber nicht verstanden, denn es war eine barbarische Sprache. Ausgenommen ein ziemlich derbes, das Bruder Jan in seinen Händen gewärmt hatte: Es tat einen Knall, wie wenn Kastanien ungeschält in der Glut zerplatzen und liess uns alle vor Schreck erbeben.»

Hochgeschätzte Leser*innen, für einmal – kurz vor der Mitte des Festivals – ging mir heute die Erfindung der Wirklichkeit flöten; ich bitte um Verzeihung. Tatsächlich tut die Realität an manchen Tagen, in manchen Jahren und in unser aller Leben zuweilen einen Knall und lässt uns aufschrecken aus aller Künstlerei. Alle Versuche, sich dagegenzustemmen, sind funny jokes from outer space. Natürlich müssen wir diese hegen und pflegen, auch wenn sie nicht alles sind. Denn ohne sie ist das alles nichts, wie schon Goethe … (Ach was!) – Das literarische Denken im Senden und Empfangen gehört doch zu den Dingen, die uns noch bleiben, so isoliert wir vom gemeinsamen Jubilieren auch seien. Dies hätten wir übrigens heute Abend prächtig vertiefen können, bei ›Feigenwinter 3 & Arte Quartett‹ und deren Jazz-Auslegungen vom Schreiben und Leben des Innerschweizer Literaturnobelpreisträgers Carl Spitteler (1845–1924). Der schrieb übrigens auch unter dem Pseudonym Carl Felix Tandem, was nicht nur bestens zu dem Zusammenschluss zweier Jazzformationen passt, sondern auch zum Tandem aus Realität und Wirklichkeit, aus Vorstellung und Phantasie, aus Lebensglück und Verhängnis, auf dem wir alle zur Zeit den Berg hinunterrollen. – Alle weiteren verhängnisverhütenden Massnahmen zu den Stanser Musiktagen seien nun auf den morgigen Bericht vom „Bluesy Friday“ verschoben.