SMT 2020 - Der Dienstag

Was wäre, wenn? Heute: Die grosse Eröffnung und ihre Parallelwelt an der Bar.


Bilderserie von Emanuel Wallimann

Die grosse Eröffnung und ihre Parallelwelt an der Bar.

ENDLICH! Es ist soweit! Endlich – wie letztendlich alles, aber will man das wissen, jetzt, da es endlich beginnt? Ein ganzes Jahr der Vorfreude neigt heute sein Haupt und übergibt den Stab an die Nervosität, das Lampenfieber und die Erlebensgier des reinen Moments. Wer hätte das gedacht, vor einem Vierteljahrhundert … – Herrjeh, wir waren Kinder! 

Was trug und frug man damals bloss? – Es heisst aber ›fragte‹. – Nein, Goethe schrieb ›frug‹. – Na und? War Goethe jemals in Stans? – Das interessiert doch nicht. Es gibt hier kein Schild, auf dem steht: ›Hier war Goethe nicht!‹ Hingegen gibt es welche, die sagen: ›Hier weilte Fritschi.‹ – War das nicht dieser verrückte Bebop-Bratschist von 1997? – Ach, lass mich in Ruhe. Jetzt gehen wir erstmal zum Winkelried! – So diskutierte ich also mit mir selbst, vom Bahnhof kommend die ganze lange Buochserstrasse entlang Richtung Dorfplatz schlendernd, und dachte: Donnerkiel, Stans wird auch von Jahr zu Jahr imposanter! – Die Magistralen waren bereits gut gefüllt mit bunt und verwegen gekleideten Menschen verschiedenster Nationen und Kontinente, allesamt gierig auf das Kommende und nur fast so nervös wie die Musiker und Sängerinnen, die sich in ihren Zimmern in den oberen Stockwerken der Bürgerhäuser für das grosse Fest temperierten; aus allen Richtungen erschollen exotische Töne und Klänge, Wortfetzen und Koloraturen jeglicher Couleur. Es war unverkennbar die Vibration vor einem dieser Momente, die die Musikwelt verändern sollten. Die Alten hätten wohl gesagt: ›Heut ist ein Tag zum Helden zeugen!‹ Schon hatte ich den Dorfplatz mit seinem dicht umlagerten Infostand passiert und sprang aufgeregt wie ein junges Rehkitz zum Denkmal hinan. Da lag er also wieder und liess sich verdreschen wie seit 155 Jahren, und immerhin 25 davon mit bezauberndster Musik. Winkelried – das muss man doch erstmal schaffen: dass vier Schiffe nach einem benannt wurden und noch keines davon unterging! 

Bis dahin mag sich das alles noch recht vernünftig angehört haben. Doch wie kann ich Ihnen, geschätzte Leser, elegant – und ohne dass Ihre Enttäuschung wie die Keule jenes Habsburgers auf das Haupt des Helden nun auf mich selbst zurückfallen wird – vermitteln, wie es wirklich ist? Wie es, vom Kommenden aus betrachtet, gewesen sein wird? Und möchten sie das wirklich wissen wollen? Nun, der Moment ist erhaben, unbestritten, und die Szenerie gespenstisch leer; am Boden noch der Schatten eines Helden, da schliesst der Herzog von Albanien die ›true chronicle history‹ mit bebenden Worten: „Lasst uns, der trüben Zeit gehorchend, klagen, / nicht, was sich ziemt nur: was wir fühlen sagen. / Dem ältesten war das schwerste Los gegeben, / wir jüngern werden nie so viel erleben!“ (Sie gehen mit einem Totenmarsche ab. Vorhang. Fertig King Lear. Siehste, Shakespeare zieht doch immer!) 

In Wirklichkeit – ich meine, das Schwindeln macht fast keinen Sinn; Sie werden es ja sowieso herausbekommen … – die Wahrheit also ist: Von alledem, was nun geschah, bekam ich nicht allzu viel mehr mit, denn vom Denkmal aus ging ich geradewegs auf einen Sprung an die Winkelriedbar im legendären Weinzelt am Fusse der noch legendäreren Kniri, um endlich voll und ganz angekommen zu sein. Ich kam mir vor wie einer jener dehydrierten Pilger auf dem Weg nach Santiago, den die Erkenntnis überfällt, es in seinem Leben nicht einmal nach Einsiedeln schaffen zu wollen und schon gar nicht diese elendiglich steile Kniri hinan, an einem einst famosen Verlagshaus vorbei und weiter ins Nirgendwo. Gibt es in dieser gottverfluchten Innerschweiz eigentlich einen einzigen Strassenmeter, der nicht dem Jakobsweg zugerechnet werden muss? Aber ich komme vom Thema ab. Dort blieb ich also hängen, am Tresen, der die Welt bedeutet, und spannte die ersten Ponys vor die Kutsche meines Durstes, während es drunten im Dorfe noch nervöser zu werden begann. Jetzt war es Punkt 17.30 Uhr und Christian Hug las im Kulturraum von Matt aus der Zeitung vor, ausgerechnet zu jener Minute, da im SRF eine Sondersendung darüber über den Äther ging, dass all dies gar nicht stattgefunden haben wird! Ich bitte Sie, und das soll noch jemand verstehen?

Eine halbe Stunde später ging es dann richtig los. Alle Welt strömte auf den Dorfplatz zur kantig prismatischen ›Roten Stele‹ von Gertrud Guyer Wyrsch; die erste Musik dieser Vierteljahrhundertjubel-SMT erklang (nur noch drei Mal das Ganze, und schon werden die 100-Jahre-Aufkleber gedruckt!) und dann wurde eine ganze Stunde lang gesprochen. Jeder ehemalige, derzeitige und zukünftige Kulturbeauftragte irgendeines Kantons setzte den Partnern, Sponsoren und Förderern ein Dankmal, bis die gesamte Szenerie, der ganze Talboden Stanserhorn und Bürgenstock komplett mit diesen Memorabilien zugebaut war und das Volk fast ganz in den Wimpeln, Blachen und Fahnen ertrank. Zum Glück kam dann das erste Folkkonzert in der Kapuzinerkirche und draussen währenddessen ein frischer Wind herbei, der das Flatterzeug kurzerhand in den See hinaustrug. Denn schon bald darauf folgte die erste Show auf der Dorfplatzbühne und auch im Kollegi ging es rund. 

Irgend jemand neben mir erzählte, dort spiele ein Cousin von Luca Hänni, aber das mochte ich nicht so recht glauben. Was sollte man heutzutage überhaupt noch für wahrhaftig halten können? Die Welt war in Aufruhr; jede und jeder erfand doch nur noch Geschichten und behauptete, dass man den Glauben an das Wissen verlieren könne. Darüber dachte ich eine Weile nach. Das konnte man so oder so verstehen. Die Gestalt am anderen Ende des Tresens meinte dann noch, dass in dieser vermaledeiten Gesamtsituation doch auch allerhand Gutes zu finden sei. Ich verstand ihn nicht. Dann schrie er: Es ist doch auch allerhand Gutes darin zu finden! – Was soll daran denn Gutes sein? brüllte ich zurück. – Nun kreischte er schon: Ich weiss es ja auch nicht, aber ich suche es halt! – Das einzig Gute ist doch höchstens noch, dass man sich dran gewöhnt – sogar an das Nichts! Meine Stimme überschlug sich fast, so heftig mussten wir gegen die Wirklichkeit angehen, um uns verstehen zu können. Von nun an schwiegen wir heiser und ich dachte nur noch, in die Stille hinein: Etwas Gutes hat die ganze Sache vielleicht doch: Wenn in Luzern die Blauen abschmieren, dann kommt auch dieser Reptilienmensch aus Mannheim nicht mehr her. – Mein Gegenüber schaute mich lange an und dachte dann: Täusch dich da mal nicht. Die kommen schneller wieder, als du niesen kannst … – Den Rest des Abends habe ich nicht mehr so recht verstanden. Was aber keine Rolle spielt. Die Stanser Musiktage waren eröffnet.