Stanser Wortmusik - Prelude

Max Christian Graeff berichtet eine Woche lang, was möglicherweise geschehen würde, wenn die Gegenwart so wäre wie vorgestellt.


Stanser Wortmusik: Ein Intermezzo aus dem stehenden Jetzt
Montag, 20. April 2020 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Posaunistinnen und Drehorgelspieler, geschätzte Fätzä und Finöggeli, 

morgen beginnen sie also endlich, die Tage, in denen das Dorf – wie jedes Jahr seit einem Viertel Jahrhundert – in eine tiefgreifende, lebensverändernde Vibration verfällt, die uns in die Knochen und Knorpel fährt und noch lange in den Auffaltungen der Grosshirnrinde nachhallt: Eben diese Nachhalltigkeit ist es, die das Städtchen Stans von der übrigen Welt zu unterscheiden vermag. – Was meinen Sie? Sie beginnen ja gar nicht? Wie kommen Sie darauf?! Das hätten Sie wohl gerne, was? Nichts da, Vorhang auf und ab die Post: Wenngleich nur im Konjunktiv – die Nunc-Stanser Musiktage finden statt! Wir lassen uns von der Realität doch nicht die Wirklichkeit zertrümmern! 

„Was wäre, wenn?“ Die Frage treibt uns lebenslang um, doch manchmal gerät sie vor lauter ablenkenden Momenten der Gegenwart aus dem Blick. Nun aber sitzen wir im Loch und singen einsam vor uns hin: „Hansdampf im Schnäggeloch hät alles, was er will, / und was er will, das hät er nöd und was er hät, das will er nöd. / Hansdampf im Schnäggeloch hät alles, was er will …“ 
Was wäre wenn … Vierundzwanzig Jahre lang haben wir uns gefragt, was denn wäre, wenn die Musiktage nicht stattfänden, wenn zum Beispiel eine so unerwartete wie unsichtbare Gefahr das öffentliche Leben in eine Art Lähmung versetzen würde, in eine Glasglocke, unter der es bebt und zuckt wie sonst, aber aus der nichts hinausdrängen würde in das, was unser gemeinsames Leben und Erleben ausmacht? Ein unvorstellbarer Gedanke, den wohl kaum jemand sich konkret zu formulieren traute. Hamsterkäufe von Klopapier und Handfeuerwaffen-Munition? Verifizierte Fake News aus den Mäulern der Weltbeherrschern? Die Rolling Stones live von der Wohnzimmerbühne? Das kann sich doch keiner ausdenken. Das kann man wirklich nicht ernst nehmen. Das ist doch Avantgarde! 

Also, liebstes Publikum der Welt: Werden wir konkret. Wir möchten Ihre wertvolle Lesenszeit ja nicht unnötig verschwenden. Wir öffnen den Vorhang, obwohl wir ankündigten, ihn geschlossen lassen zu müssen. Wir ziehen die schweren Stoffe, die unsere Sinne momentan umkleiden, täglich für einige Minuten zur Seite. Wir streamen keine Placebos, wir bringen kein fernes Ökosystem durch beständiges Serverglühen zum Verdampfen. Wir rudern zurück auf Start, auf den Anfang aller Diskurse und Fantasien: auf das Wort. Wir berichten eine heisse, turbulente Woche lang, was möglicherweise geschehen würde, wenn die Gegenwart so wäre wie vorgestellt. Wir verfolgen unser geplantes Programm im Modus des „als ob“: Täglich maximal fünftausend Zeichen lang, ein Zeichen also für jeden der in Stans erwarteten Zuhörer. 
Die SMT beauftragten mich, täglich zur blauen Stunde im Winkelried-Zelt kurze Geschichten und Berichte von alledem vorzulesen, was im Dorf geschah. Zumindest dies soll den Verhältnissen zum Trotz stattfinden, in wenigen Minuten eines offenen Vorhangs zur Mittagszeit. Kommen Sie auf ein paar Sätze mit, ins vibrierende Dorf. Es gilt, was über jede rauschhafte Nacht gesagt wird: Wer wirklich dabei war, wird sich nicht erinnern können … 

Bis morgen also, zur Eröffnung der Stanser Musiktage 2020!
Im Namen des gesamten Teams der SMT:
Ihr MC Graeff