Stanser Wortmusik von MC Graeff

Tägliches von unserem Festivalschreiber

Stanser Wortmusik von MC Graeff, Samstag, 22. April

Liebe Notenschlüssel und Quintenzirkel, sehr geehrte Damen und Herren,

mit dem Samstagabend dräut der Höhepunkt des diesjährigen Festes der Musik am Horizont, und während Ihre Körper innerlich vielleicht noch mit einem leisen Görpsen, Blubbern und Rauschen von den harmonischen Flüssigkeiten der Freitagnacht zehren, gilt es nun, den Geist auf ein extrafeines Programm einzustimmen und zugleich immer noch letzte Reserven für morgen zu lassen. Eine Mitte, einen Gipfel eines Berges zu bestimmen bedeutet stets eine erhebliche Ungerechtigkeit gegenüber den anderen Terrains, und die Benennung eines Höhepunkts lässt die konzentrierteren, intensiveren, manchmal viel wichtigeren Vorspiele vergessen. Können Sie sich noch erinnern, wie alles begann, am Mittwoch um 18 Uhr in der Kapuzinerkirche, mit Gabriel Nietlispach Pupato? Ich hab eine gute Ausrede, nicht dortgewesen zu sein, denn da war diese kleine Ecke hier vorzubereiten, womit wir zum letzten Mal bei meiner Bitte wären: Dies ist eine offizielle Veranstaltung der Musiktage, ein Tagesfeuilleton zur redaktionellen Umrahmung, und ich bitte Sie um wenige Minuten Aufmerksamkeit und etwas reduzierte Eigenlautstärke, um meinen Auftrag erfüllen zu können. Um 19 Uhr sind Sie dann wieder dran, mit der eigentlichen Stanser Wortmusik, die als grosses Drumherum für dieses Fest so massgebend ist.

            Damit Sie einen guten Grund hätten, schon vorher davonzuspringen, als erstes eine dringende Empfehlung, nämlich die Konzertlesung von und mit Ariane Koch und Nadja Zela um 19 Uhr im Literaturhaus Zentralschweiz, in der Rosenburg. Ein gemeinsames Programm von zwei starken Frauenstimmen mit Rocksongs und Auszügen aus dem Roman "Die Aufdrängung", für den die Autorin einen der Schweizer Literaturpreise und auch den Deutschen Buchpreis erhielt und in dem es um eine wechselseitig manipulative Beziehung zwischen einem Gast und einer Gastgeberin geht und damit auch um die eigene Sphäre, um Heimat, Herkunft, Fremde und Integration. Brennende Themen am richtigen Ort in einem Festival, das die Musik der Welt ins Dorf holt und bei dem man sich auch fragen darf, wie die Stimmung wäre, wenn die sogenannt Fremden nicht ihre Instrumente, sondern nicht mal einen Pass bei sich hätten und nicht aus Vergnügen und freiwilig kämen, sondern um irgendwo sein zu dürfen. Und an einem Ort, an dem bei aller Liebe die Sehnsucht in die Ferne ständig mitlebt, weil man, sofern man nicht muss, immer anderswo sein will als dort, wo man gerade ist. Weshalb bei Von Matt wieder so ein Bestseller im Schaufenster liegt: "Das Meer und ich", humoristischerweise gleich neben dem "Monopoly Nidwalden". Die Erzählerin in Frau Kochs Roman sagt: "Ich bin das allerälteste Fossil und hasse diese Kleinstadt so sehr, dass ich mich an ihr rächen werde, indem ich nie wirklich von hier weggehe, auch wenn ich ständig so tue, als ginge ich weg." – Das kennen wir alle, doch zurück zu diesen Festtagen, an denen die Musik der Schlüssel zur Verständigung ist und uns hoffentlich oft zur Frage bringt, was dieses "andere" eigentlich sei. Und zurück zu einer weiteren Empfehlung, zu Bozo Vreco, um 21 Uhr im Theater, der uns zeigt, dass man auch anderswo als an Orten zuhause sein kann, in der Liebe nämlich und in mehrerem zugleich. Als Marc Unternährer ihn fragte, wie sein Name auszusprechen sei, sagte er: "Boscho, like je t'aime".

            Wenn die Musik, was in Stans schon immer bewiesen werden konnte, der Boden ist, auf dem wir ein gemeinsames Fühlen und im besten Fall auch Agieren verhandeln, dann wird noch einmal klar, wie einschneidend die vergangenen drei Jahre im gesamten Kulturbetrieb waren, selbstverständlich in allen Gewerken der Kunst. Heuer dürfen wir wieder so locker darüber hinwegspielen und so tun, als wäre es nicht mehr von Belang, denn die Bratwurst, die ich sehe, ist die einzige, die zählt; warum sollte ich an jene denken, die ich nicht verschlingen kann, vielleicht sogar nie mehr, eine Aussicht, die allen Menschen im Unfrieden zum Alltag wurde. Werden wir jemals wieder syrische Musik hören, ohne direkt über jenen Krieg sprechen zu müssen, und ukrainische, sudanesische? Dies ist, wenn ich das von aussen so sagen darf, vielleicht noch ein Gedanke, der in diesem Fest nicht so drängend vermittelt wird, wie er eigentlich ist. Was wir nicht sehen, ist halt nicht da. Aber denken wir zumindest an die sehr vielen Bands und Orchester, sogar an bekannte und berühmte, welche nicht in der Lage waren, die gesamthaft doch noch moderate, aushaltbare Zeit der Pandemie zu überstehen. Oder an die eigentlichen Musikerinnen, denen ein solcher Einschnitt schon reichte, um die Musik nicht als Beruf zu wählen und vielleicht hier auf dem Dorfplatz ihr erstes oder bald schon ein amtlich umjubeltes Konzert zu geben. Diese Erwähnung will zu dem Gedanken führen, dass all das, was wir hier aus vollen Zügen geniessen dürfen, als eine absolut nicht selbstverständliche Gabe der erfreulicherweise noch gesättigten Verhältnisse anzusehen ist. Und dass zum Ereignis des Festivals an sich auch noch die Besonderheiten dieser Musiktage dazukommen, die eben auch die Besonderheiten des Dorfes widerspiegeln, dieses nassen Wundertals, an das sich schon hunderte, tausende – oder, wie Trump sagen würde: Billions of Billions – von MusikerInnen weltweit gerne zurückerinnern, weil es auch sie ein bisschen verändert hat. Dies erkennend liegt doch auf der Hand, dass hier etwas nicht nur wohltuendes, sondern in jeder Hinsicht Wertvolles, Gesundheit stiftendes und drumherum sicher auch noch Gewinn Abwerfendes entstanden ist, für das wir alle dankbar sein müssen. Nichts kommt von ungefähr und zugleich ist nichts davon vorbestimmt und vom Himmel gefallen. Auch bei uns in den gemütlichen Zonen stehen die Zeichen auf einer mindestens unbedachten, fahrlässigen Unterlassung oder gar Zerstörung kulturellen Geschehens. Passen Sie gut auf, auf diese Schule des Hörens, des Zuhörens! 

            Was habe ich gestern abend selbst gehört? Arp Frique & Family im Chäslager, eine karibisch-niederländische Spur von Chics "Le Freak" mit synkopiertem Worlddiscosound für alle, die ihren Körper auf die Party mitbrachten, ob schon in Auflösung begriffen oder noch nicht mal voll im Saft. Hier zeigte sich bestens, dass das Miteinander der Generationen in Stans mehr als anderswo beabsichtigt ist und auch funktioniert.

            Ganz anders wurde das Dasein später im Unteren Beinhaus rhythmisiert, wo an der aufgeräumten Schädelwand ein besonderes Auditorium zähneklappernd auf Abican wartete, irgendwo unter ihnen übrigens auch eine ferne Verwandte, die im 19. Jahrhundert aus Remscheid, der Welthauptstadt der Zangen, Feilen und Hämmer, nach Stans geheiratet hat. Ich hab sie aber nicht mehr erkennen können. Vom kleinen Altar aus jubelten die Putten mit hölzernen Stimmchen einen Gruss für all jene, ob mit einem Gott im Kopf oder ohne, die zwar hier nie werden liegen dürfen, aber für den Moment doch mal willkommen sind. Es ist ja doch sonst sehr still … Nun aber rief plötzlich ein Muezzin durch den fernen, archaisch klingenden Alltagsatem einer Stadt, dem einen so heimatlich klingend wie den anderen fremd, und die kleine Welt des Beinhauses bekam eine weltläufige Dimension, mit elektronischen Pattern, Rastern, Mosaiken überlegt, mit multiversen Klängen aus einem All, einem Universum, das uns unergründlich scheint, wobei es doch denselben Mond betrachtet. Das elektronische Singen entsteht durch Berührungen der Hand an der metallenen Technik, durch Kontakte, die Strom fliessen lassen, und erzählt, rhythmisch und frei, vom Hier- und Anderswosein, von einem Basar, einer Gewerbehalle, einer Fertigungsstätte für alles Metallische, auf dem herumzuschlagen ist, auf dass es klinge: nach Stahl, Messing oder Kupfer, nach seinem Zweck als Klinge, Feile oder Wange oder auch als Nagel für den Sarg, in dem jeder der zuhörenden Schädel einst lag oder einmal liegen wird. Dann beginnt der Strom zu singen, er atmet nicht, zieht nicht ein, sondern stösst nur aus. Der Mensch spricht durch den Nichtmenschen, der Musiker führt die Maschine wie eine Marionette über diesen Markt seiner Vorstellung, lässt sie Betrufen, trauern, werben und pulsieren, dass sogar die Putten zu steppen und zu raven beginnen, und gerade, als ich mich frage, wodurch die elektronischen Befehlsketten mit Ursache und Wirkung noch so atmen wie das, was wir als Musik verstehen, kommt ein Fotograf herein, möchte schnell ein Bild machen, hadert und sucht und ringt um den Moment, und genau dies könnte eine Maschine eben nicht. Denn jedes Ergebnis lebendigen und auf irgendeine Weise beseelten Tuns kann nur auf der Fähigkeit zum Irrtum basieren, auf einer Suche nach Intuition und Moment, was nebenbei ja auch die Quelle aller Kunst mitsamt der Musik ist. Ohne das gelingende Irren im Kosmos der Möglichkeiten wären die elektronischen Töne vielleicht physikalisch dieselben, doch die Geschichte, die sie erzählen, wäre einfach nicht wahr. Und deshalb ist das Entstehen von Kunst lediglich im Menschen möglich oder noch im Tier, doch kaum in der Maschine, deren Daseinsziel als Instrument und Mechanismus es sein muss, jeden Irrtum bestmöglich zu vermeiden, was wir gerade auch in der heraufziehenden, noch experimentellen, doch bald schon hermetisch werdenden "Künstlichen Intelligenz" erleben, deren Nützlichkeit uns zweifeln macht. Denn wenn es fortan nur noch darum geht, keinen Fehler mehr zuzulassen, dessen Definition als Fehler selbst rechnerisch generiert wurde, dann wäre die Auslöschung des Menschen tatsächlich eine unvermeidbare Konsequenz. Die Stanser Musiktage würde es weiterhin geben, denn sie sind ja Programm, doch die lästigen Musikerinnen, die lärmenden Zuhörenden, die Unterstützenden wie die Zeternden, die Schenkenden wie die Trinkenden, die Fragenden und Tanzenden wären halt überflüssig, ausgestorben und folglich nicht mehr dabei. Nur noch Datenströme, selbstgefällige Impulserzeugung, maschinell-autonomer Zufallsapplaus. Was doch schade wäre, nicht nur aus sentimentalen Gründen. Vor einer künstlichen Intelligenz Angst zu haben ist keine Antwort, denke ich in Abicans wilden, handgemachten Clustern, doch vor den Menschen, die nicht mit ihr umgehen können, sollten wir uns fürchten wie ein Kind beim ersten Beinhausgang. So wurde dieses feine Spätkonzert, das sich letztlich und ganz organisch zu einem Mikro-Inferno, zum Höllenhimmel auf Erden entwickelte, zu einer unerwarteten, knallharten Diskursperformance; die Putten zürnen ob ihres Muskelkaters und die Schädel (mitsamt meiner eingestansten Ururgrosscousine) werden gehörig zu reden haben, wenn es dann nächste Woche wieder nur nach Heimat klingt.

            Ist dieses Aufladen von Kunsterlebnissen mit Gedanken über die Welt eigentlich nur so etwas wie Kitsch? Oder ist es bereits Teil jener Kunst, die uns geliefert wird? Manche meinen, die Künste sollten die Sorgen nicht direkt ansprechen, was doch andererseits paradox ist, denn in der Kunst liegen bereits auch die nichtkünstlerischen Lösungen verborgen. Was Musik sei, was Kitsch oder Kunst, was Geräusch sein könnte und was Melodie, das bestimmt unsere ureigene, persönliche Freiheit des Hörens. Die Stanser Musiktage sind ein Trainingslager, ein Bootcamp für die Fähigkeit, als Wahrnehmende schon bedeutende Teile der Kunst zu sein.

            Ich persönlich habe in diesem Jahr wieder viel gelernt, im Vorübergehen, im Zuhören, manchmal im fortgeschrittenen Stadium oder im Zug auf der Heimfahrt. Zum Beispiel, wie man mit einer Oboe ein Champignoncremesüppchen aufschäumt. Das Zitat des gestrigen Tages schnappte ich hingegen im Spritzenhaus auf, im Restaurant für die Helfenden: "Ach, warte mal ab, noch zwei drei Musiktage und du kannst das dann auch."

            Zum Schluss nochmal das kleine Lied vom Mond, Au clair de la lune, dessen Melodie, anno 1860 mit einem Phonautographen aufgenommen, als erste Tonaufnahme der Welt gilt.

 

Wenig bleibt für immer, / selbst in der Musik.

Hockst du auf dem Zimmer, / denkst an Stans zurück,

            spürst du jenen Glimmer, / den das Fest dir gab,

und im Ohr der Schimmer / hält dich lang auf Trab.

 

Hörst du noch das Rauschen, / wars wohl zuviel Wein.

doch du willst nicht tauschen, / schaust nicht traurig drein.

            In nur fünfzig Wochen, / nach nur einer Weihnachtsgans, schon

schwingst du deine Knochen / abermals nach Stans.

 

Das war die Stanser Wortmusik, endlich nachgeholt aus der Zeit, als alles nur eine Vorstellung war, und deshalb jetzt mal redaktioneller als erwartet, nah dran an den Realitäten, um die Musiktage wieder einzufangen, und nächstes Jahr anders oder mit jemand anderem, vielleicht humoristischer, lyrischer, musikalischer, hoffentlich nicht verzweifelter angesichts der Welten ringsumher. Lassen Sie sich überraschen, denn dies ist der schönste Sinn und Zweck dieses Festes. Vertüdeln Sie bitte nicht die beiden grossartigen Konzerte des morgigen Sonntags, wenn Sie – gerade aus der Disco kommend – um 10.30 Uhr zu Helena Hallberg nach Beckenried wanken können, um sich dann mit letzter Kraft um 16.30 Uhr nach Niederrickenbach in die Gnadenkapelle zu schleppen – sehr feinsinnig ausgewählt, der Ort –, um sich bei Hatis Noit noch etwas Entrückung vor dem Tatort abzuholen. Viel Vergnügen; adieu!

 

Stanser Wortmusik vom Mittwoch, 19. April

Stanser Wortmusik vom Donnerstag, 20. April

Stanser Wortmusik vom Freitag, 21. April