SMT 2020 - Der Mittwoch

Was wäre, wenn? Heute: Eine Weltstadt und ihre Bewohner im kosmischen Rausch der Musik.


Bilderserie von Emanuel Wallimann

Eine Weltstadt und ihre Bewohner im kosmischen Rausch der Musik

Was für ein grandioses Durcheinander überall: im Kopf, im Dorf und auf dem Globus. Hochgeschätztes Publikum, einige aus Ihren Reihen dürften dies kennen und die anderen werden es wohl nie wahrhaftig imaginieren können: An kaum einem anderen Tageserwachen balancieren die Verhältnisse vergleichbar grazil auf dem schmalen Grat der Paradoxie wie am Morgen nach der Eröffnung der Stanser Musiktage. Man sollte meinen, sich im fünfundzwanzigsten Jahr daran gewöhnt zu haben, doch das ist nicht so. Zu bemerken ist diese Verschobenheit – um nicht vom Verrücktsein zu sprechen – hingegen kaum, wenn man sich im mental geschlossenen Stadtraum mit jenen trifft, denen es ebenso geht.

Im diesjährigen Fall fand dieses Treffen schon kurz nach Sonnenaufgang im Garten der Melachere in der Schmidgasse statt, an jenem Ort also, der schon seit 352 Jahren einen hortus conclusus und während der SMT eben einen hortus musicus darstellt, zugleich einen portus zwischen den Wahrnehmungsebenen unseres Daseins, zwischen dem, was „wirklich“ genannt wird und was nicht. Hier trafen wir uns heute früh mehr oder weniger zufällig zu einer Art Pressefrühstück; jeder brachte ein paar nächtliche Fundsachen aus der Festivalgastronomie mit, denn in diesen Tagen liegt in Stans nahezu überall noch Geniessbares herum. Zu denen, die dies zu schätzen wissen, gehörten an diesem Morgen Pirmin Bossart, der schon bald seine Sonderseite für die Luzerner Zeitung abzugeben hatte, Jana Avanzini natürlich, Stoph Ruckli fürs 041 Kulturteil, ferner mehrere neue Gesichter aus der berichtenden Phalanx. Auch Stefan Zollinger vom Amt für Kultur sass mit zentnerschweren Augenringen in den Hortensien, und als dann auch noch der Luzerner Kantonskulturchef Stefan Sägesser plötzlich durch die Hecke gekrochen kam, hätte mich selbst das Auftauchen von Urs Kaufmann nicht mehr gewundert, der als Luzerngeborener im Kulturbüro Wuppertal wirkt. Die beiden wollte ich schon immer miteinander bekanntmachen. – Soweit also das namedropping dieses inoffiziellen Medienmeetings, denn schließlich ist meine Aufgabe als Festival-Klatschtante der klassischen Yellow Press zuzurechnen: schonungslos und knallhart investigativ die Front des Faktischen abschleichend habe ich über all das zu berichten, was hier wirklich passiert. Wobei es schon ein wenig in den Fingern zuckt, auch mal von einem Konzert zu berichten, das es gar nicht gab – aber das würde ich niemals tun!

Abbitte leisten muss ich allerdings bei allen Urdörflern, die gestern unverzüglich reklamierten, Goethe habe tatsächlich eine Nacht in Stans verbracht und das sei sehr wohl angemessen im Stadtbild vermerkt! Oh je, ausgerechnet diese Passage des Berichts wurde von SRF1 gesendet, und nun tobt der shitstorm … Die Festivalleitung berichtet sogar von Kartenstornierungen. Was soll ich sagen? Dann bliibet doch daheim und verpasst halt all die Sensationen, die heute hier über die Bretter laufen!

Haben auch Sie die leichte Unlogik der gestrigen Chronik bemerkt? Wie konnte ich im Winkelried-Zelt versackend die grandiosen Auftritte von Bänz Oester & The Rainmakers, Helen Maier & The Folks und Jolly Roger verpassen, während Sie bereits am frühen Nachmittag den Bericht dazu lesen respektive eben nicht lesen konnten? Um fortan jede Verwirrung zu vermeiden, gelobe ich also den Zeitstrahl einzuhalten, solange der für mein Alter ja auch noch ganz kräftig ist. Zur Minute (und damit befinden wir uns also gemeinsam im absoluten Jetzt) hocke ich jedenfalls im Dachstuhl des Lit.z Zentralschweizer Literaturhauses in der Rosenburg und lasse die ernüchternden Gedanken mit den Kragenvögeln kreisen, die dort seit fast drei Jahren schon ihre Runden drehen dürfen. Eigentlich hatte ich die Installation während der SMT demontieren wollen, um Platz für Neues zu schaffen, aber dazu werde ich diese Woche kaum kommen, denn es ist zu viel los: Schon bald, sofern alle wieder laufen können, geht es mit einer Dorfführung los, die das Wirken bekannter oder schon vergessener Frauen in Stans beleuchtet. Anschliessend gibt’s Schülerpop und eine Performance zur Kunst, und schon muss ich wieder zur Winkelriedbar hochlaufen, um Notizen, Notturnos und Notabenes zum Festival zu lesen. (Bin irre aufgeregt!) Um 19 Uhr geht es dann ans Eingemachte: Pop, Klassik, Blue Notes, Welt- und Volksmusik, Hip-Hop, Funk und Spoken Jazz: Der ganze Talkessel scheppert und vibriert mit Sounds und Grooves aus aller Menschen Länder. Wo, wenn nicht hier in Stans wird James Joyces Direktive als dem ›Ulysses‹, „put all space in a nutshell“, konsequenter umgesetzt? Die ganze Welt in einer Nussschale, jede kleinste Nuss eine eigene Welt – um das am eigenen Leib zu begreifen, müssen nicht erst die unvergleichlichen Baumnüsse von der oberen Kniri ins Dorf hinabkullern (jedenfalls jene, die Heini Gut nicht mit breiten Spannnetzen für Barbaras völlig zu Recht weltberühmte Brownies abzufangen versucht) …

Ein furioses Programm also, am heutigen Mittwoch, dem ersten richtigen Festival-Tag. Absolute Ekstase Und stellen Sie sich bitte einmal vor, wir würden all dies gar nicht erleben? Die Welt wäre wirklich eine andere. Manchmal denke ich, dass wir gar nicht wirklich begreifen, was wir an alledem haben. Das täten wir erst, wenn es einmal nicht wäre. Wenn der „all space“ nicht in der Nuss, in der nutshell wäre, sondern im „not shall“, im Nichtsein oder Nichtwerden: Kaum auszudenken. Und das bei diesem Wetter! Besser hätte es kaum kommen: Sogar die Lyriden sind pünktlich zur Stelle und brausen über den Nachthimmel, dass es eine Freude ist. Schade nur, dass jedes kleine Leuchten, das uns da verzückt, zugleich auch ein Verglühen ist … Bis zum Samstag werden uns die Staubteilchen des Kometen Thatcher noch begleiten. Schauen Sie doch ab und zu einmal nach oben und stellen Sie sich vor – ja, was? Ach was, egal. Stellen Sie sich einfach irgendetwas vor.